Coronastille, Coronaleere: Die Natur erobert die menschenleeren Städte
Wildschweine sind auf Sightseeingtour, Hirsche betrachten Schaufenster. In Berlin und anderswo entdecken Tiere die Ruhe der Coronazeit.
Er hat sich noch immer nicht ganz an die coronaleeren Straßen gewöhnt, an diesen allabendlichen leichten Anhauch von Verlorenheit. Aber da kam er schon, der andere, sie waren allein auf der Kreuzberger Gneisenaustraße. Er war fast pünktlich, halb neun wie immer zuletzt, drei Stunden früher als in den vergangenen Jahren.
Natürlich lief er wieder in der Mitte des Mittelstreifengehwegs. Nur Randexistenzen laufen am Rand, Leute, die nicht sicher sind, ob sie überhaupt dahin gehören, wo sie sind. Und wahrscheinlich würde er wieder nicht ausweichen.
Etwas unhöflich ist das schon, eigentlich mag Torsten H. Leute nicht, die nicht diesen kleinen Schritt zur Seite machen, die diese kleine Geste der Zurücknahme nicht kennen, und doch war er froh, dass der andere kam. Aus der gleichen Richtung wie üblich, von den Friedhöfen an der hier einmündenden Bergmannstraße. Und will jetzt wohl zur U-Bahn. Oder zum Bus.
Konsumorientierte Hirsche
So oft, wie sie sich schon begegnet sind, wäre es Zeit, einander zu grüßen. Und wirklich, beinahe stur, ohne ihn aus seinen sonst so aufmerksamen Augen anzuschauen, läuft der Fuchs an ihm vorbei. Im vergangenen Jahr deutete er noch einen semiunterwürfigen, diskreten Bogen an. Was ist passiert?
Die Tiere übernehmen die coronaleere Stadt, nicht nur in Berlin.
Ein Puma streifte unlängst durch die leeren Straßen von Santiago de Chile, Affen zanken auf den verwaisten Magistralen von Neu-Delhi, in Madrid verließen die Pfauen den Königlichen Garten und ziehen ihre Schleppe nun ohne Eile über den Asphalt.
In Barcelona wurden Wildschweine auf Sightseeingtour beobachtet, im walisischen Seebad Llandudno frisst eine Herde Kaschmirziegen Vorgartenhecken kahl, und im japanischen Nara bleiben konsumorientierte Hirsche gruppenweise vor den Schaufenstern stehen. Die ungewohnte Ruhe lockt die Wildtiere in die Stadt. Aber so schnell?
Falls der Mensch urplötzlich von diesem Planeten verschwinden würde, er darf gewiss ein, seine Städte würden nicht lange leer stehen.
Wie der Fuchs, so kommt auch der Hase, Hauptperson dieser Tage, ursprünglich daher, wo Fuchs und Hase sich gute Nacht sagen. Auch er zeigt zunehmend Neigung zur urbanen Existenzform. Die hasenreichste Stadt mit 100 gesichteten Langohren 2018 ist Stuttgart. Allerdings zählt das Hakenschlagen nicht zu den größten Evolutionsvorteilen im Stadtverkehr.
Ob der Friedhofsfuchs auch dieses Mal gut über die großen Straßen kommt? Bergmannstraße, Südstern, Gneisenau, die ist sechsspurig. Wie gut, dass es Ampeln gibt. Der schlaueste Fuchs geht bei Grün!
Nicht nur in Berlin, auch in München wurden die Neubürger bereits bei fortgeschrittenem straßenverkehrsverordnungsaffinen Verhalten beobachtet. In Cleveland, Ohio und Lincoln, Nebraska, sollen Passanten noch immer zu etwas fahrigen, unkontrollierten Reaktionen neigen, wenn sie sehen, wer neben ihnen an der Ampel wartet: ein Kojote!
Da folgt mir jemand!, spürte er
Der Umzug der ersten Kojoten in die großen Städte liegt wie der der Füchse noch nicht sehr lange zurück. Sie können ihre Landflucht auch begründen: Das Risiko zum Beispiel, eines gewaltsamen Todes zu sterben, ist für ein Kojoten-Landei vier Mal so groß wie für einen Stadtbürger, der sich an Verkehrsregeln hält.
Da folgt mir jemand!, spürte Bernhard Kegel, als er eines Abends durch Schöneberg mit dem Fahrrad nach Hause fuhr. Es war unbehaglich, er drehte sich um. Und dann gleich noch mal. Der Fuchs blickte ihm geradewegs in die Augen: Was guckst du? Noch nie ’n Fuchs gesehen?
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Der Biologe wusste, dass er seinen Verfolger nicht durch die Intelligenz seines Gesichtsausdrucks beeindruckt hatte. Über dich schreibe ich ein Buch!, dachte Kegel. Über dich und all die anderen Neuberliner auch. Er wusste auch schon, wie es heißen könnte: „Tiere in der Stadt“.
Gelassener Habicht, zankende Bussarde
Und anfangen würde er mit dem Graureiher, der am Schöneberger Rathaus Goldfische fängt. Kegel konnte den skeptischen, nicht ganz einverstandenen Gesichtsausdruck des alten Mannes nicht vergessen, der Zeuge eines Graureihermahls vorm Rathaus wurde: Darf man das denn, in einem öffentlichen städtischen Park einen friedliebenden Zierfisch verschlucken?
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Und der Habicht im Kreuzberger Viktoriapark, den Kegels Kollege, der Journalist und Biologe Cord Riechelmann, Ende März in aller Gemächlichkeit ein blutiges Tauben-Schaufressen zelebrieren sah?
Nichts mehr da von seiner früheren Habicht-Hast. Wahrscheinlich sei es die Coronaruhe im Park, mutmaßt Riechelmann, die das Tier selber ruhig werden ließ. So wie er auch annimmt, dass es zwei in Revierstreitigkeiten verwickelte Bussardpaare waren, die er am selben Tag im Park sah. Ein solches Paar lebt seit Jahren dort, mindestens zwei der vier Streiter könnten also Neuankömmlinge gewesen sein.
Der Stadtbiologe Bernhard Kegel findet die Frage, ob die wilden Tiere die coronaberuhigten Städte übernehmen würden, hoch interessant. Man müsste natürlich eine Langzeitstudie machen.
Allerdings, sagt Kegel, würden die Neuberliner den Rückzug des Menschen keinesfalls vorbehaltlos begrüßen. Dass die Menschen weniger Lärm machen, ja. Tiere haben im Gegensatz zum Fastnichtshörer Mensch ein ungemein feines und leicht zu beleidigendes Gehör.
Man kann wegsehen. Aber nicht wegriechen
Der Fuchs nimmt Töne bis zu einer Höhe von 65 Kilohertz wahr, bei den Mehrheitsberlinern ist bei 20 Kilohertz Schluss. Und dass diese missliche Spezies nicht mehr überall ihre Duftmarken verbreitet, wird selbstredend auch geschätzt. Denn man kann wohl wegsehen, aber nicht wegriechen. Es zählt zur gelebten tierischen Toleranz, täglich olfaktorische Belästigungen ohnegleichen in ihren empfindlichen Nasen zu haben und dennoch die Contenance zu wahren.
Schließlich hat man gewusst, worauf man sich einlässt. Was ist eine Stadt? Eine Stadt ist das Supernest einer einzigen, sozial lebenden Tierart, sagt Kegel, ganzjährig bevölkert, gut beheizt, künstlich oder natürlich, je nachdem. Das Wichtigste aber: Eine Stadt ist ein immer neu gedeckter Tisch. Wer will, wenn er daran, darüber oder darunter sitzt, schon auf den Kellner verzichten?
Den Spatzen fehlen jetzt nicht nur die Krümel der Straßencafés, sondern auch die weggeworfenen Zigarettenkippen, denn in ihre Nester gehören Kippenreste. Nikotin, weiß jeder Spatz, schützt vor Milbenbefall.
Die meisten Tierarten haben nicht nur urbane Lebensgewohnheiten, sondern auch städtische Ernährungsweisen angenommen. Der Fuchs gilt noch immer als Raubtier, als Jäger. Zumindest sind die einst so zahlreichen Kaninchen im Treptower Park nicht mehr zu sehen.
Aber ist es nicht viel würdevoller, statt hinter einem fliehenden Kaninchen herzurennen, einfach die Oberaufsicht über eine Pommesbude zu übernehmen?
Städte bieten Schutz
Im Kot eines einzigen Fuchses fand man Hinweise auf Mahlzeiten bei drei verschiedenen Fast-Food-Ketten. Auf geschlossene Restaurants hat ihn keiner vorbereitet. Läuft der Südsternfuchs auch darum so früh los, weil es plötzlich viel länger dauert, satt zu werden?
Die Wahrscheinlichkeit, einem Fuchs zu begegnen, ist in der Stadt viel größer als auf dem Land. Und kaum ein Stadtfuchs hat wie manch anderer urbaner Geist auch je einen Acker mit eigenen Augen gesehen. Bernhard Kegels Lieblingsfuchs ist Schwimmmeister in einem Züricher Freibad: Er wohnt in der Hecke gleich neben dem Freiluftrestaurant.
Und noch etwas ist ganz wichtig, sagt Kegel: Städte bieten Schutz.
Dass Berliner gewöhnlich keine Fuchsjagden veranstalten, schätzen Berliner Füchse sehr. Es ist beim Tier wie beim Menschen: Stadtluft macht frei. Während Landfüchse eher zu scheuem, geducktem Verhalten neigen, zeigt der Stadtfuchs zunehmend Südstern-Selbstbewusstsein. Zumal: Wer in der Stadt schleicht, fällt auf. Auch ist er grundsätzlich offen für urbane Angebote. In London fahren Füchse bereits U-Bahn.
Kein Kondensstreifen weit und breit
Die Zahl der Berliner Füchse wird weiter steigen, man schätzt sie schon jetzt auf mehrere Tausend. Berlin ist nicht nur die Hauptstadt der Deutschen, sondern auch die Wildtierhauptstadt der Republik. Wenn Ornithologen fremder Kontinente die europäische Vogelwelt studieren wollen, schickt man sie oft – wohin? Nach Berlin, sagt Kegel. 140 Brutvogelarten. Das schaffen nicht viele Naturschutzgebiete.
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Ein bisschen schade findet der Berliner Stadtbiologe es schon, dass er vor zwei Wochen in sein Haus in der Uckermark emigriert ist. Aber Hochparterre in Schöneberg im Frühling? Und doch, man müsste jetzt unaufhörlich in den menschenleeren Berliner Himmel schauen. Kein Kondensstreifen weit und breit, das haben unsere Vorfahren zuletzt gesehen. Ist das Blau nicht blauer? Und was wäre ein Frühling in der Stadt ohne das Schlagen der Amsel?
Asphalt, Beton und Regenwürmer
Sie wissen, dass die Amsel ursprünglich ein scheuer Waldvogel war?, fragt Bernhard Kegel. Um 1900 lebte die Mehrzahl noch im deutschen Wald, aber die ersten Pionieramseln hatten längst herausgefunden, dass Städte besser sind. Nur Nicht-Amseln glauben, dass es in der Stadt bloß Asphalt und Beton gibt. Es gibt Asphalt, Beton und Regenwürmer.
Außer dem Homo sapiens erreicht kein anderes Stadttier – alle jeweiligen Individuen aufsummiert – eine solche Biomasse wie der Regenwurm, weiß Kegel. Am liebsten hat die Amsel kurzgeschorenen Stadtrasen. Da hört sie dann die Regenwurmborsten an den Wänden seiner Erdgänge schaben, aber auch Fraßgeräusche fetter Schnakenlarven. Bei dem Krach?
Wahrscheinlich sind die Großstadtvögel gerade sehr irritiert. Ist dieser Frühling nicht anders, ist es nicht viel zu leise? In jedem Wald herrscht von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang Ruhe, beinahe, in Berlin aber machen gewöhnlich sogar manche Vögel durch, vor allem Amseln und Rotkehlchen. Andere stehen morgens früher auf als ihre Landeier ausbrütenden Artgenossen: Das sind die Prä-Rush-Hour-Sänger.
Und selbst die späten Vögel kennen ihre Chance: Sie singen einfach lauter und vor allem höher als ihre Verwandten auf dem Dorf. Denn der Sound der Straße ist tief.
Der Specht empfiehlt Wärmedämmfassaden
Und dann sind da noch die, die gar nicht singen. Die klopfen. Je lauter ein Specht-Mann klopft, desto größer ist sein Erfolg bei den Frauen. Der Specht empfiehlt das moderne urbane Wärmedämmverbundsystem.
Seit der einstige „Baumeister des Waldes“ die Energiesparfassaden der Städte entdeckt hat, pfeift er oft auf Bäume. Dämmstoffe klingen beim Klopfen wie morsches Holz, aber die Akustik ist besser. Und es dauert verdammt lang, bis die Spechthöhle im Innern eines Baumes fertig ist. An gedämmten Hauswänden dagegen bekommt noch der faulste Specht eine reelle Chance.
Hinweis für Hausbesitzer: Nicht nur der Specht selbst, auch die Spechthöhle steht unter Naturschutz.
Vielen Wildtieren ist es egal, ob die Straßen coronastill, coronaleer sind oder nicht. Sie kommen in jedem Fall. Der Nilgans etwa ist es auch egal, ob Freibäder voll sind oder nicht. Sie badet trotzdem.
Die Nilgans hat die Hauptstadt erreicht
Also auch im Brentanobad in Frankfurt am Main. Ein motorisierter, zur Vertreibung der Tiere ins Wasser gelassener Anti-Nilgans-Plastikschwan wurde gestrandet und mit ausgehackten Augen aufgefunden. Alfred Brehm, der für nahezu jedes Tier ein gutes Wort hatte, zählte die Nilgans „zu den herrschsüchtigsten und boshaftesten Vögeln, die es gibt“.
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Die besonders schlechte Nachricht ist: Die Nilgans hat inzwischen auch die Hauptstadt erreicht.
Frühling in Berlin, Treptower Park, Ecke Moosdorfstraße. Genau um 20.19 Uhr beginnt eine Kohlmeise zu rufen, sehr laut, eine Amsel schlägt, kurz danach fliegt eine Zwergfledermaus ihre Runden.
Nachtigallenhauptstadt Berlin
Heute habe ich die ersten Störche gesehen!, sagt der Stadtbiologe Bernhard Kegel, der inzwischen schon unsicher war, ob es nicht doch ein Fehler war, Berlin zu verlassen, ausgerechnet jetzt. Und dann hält er den Telefonhörer in den Himmel über der Uckermark: „Hören Sie das, die Rufe, das Flügelschlagen? Da fliegen Kraniche über unser Haus!“
Störche und Kraniche hat Berlin nicht. Aber hat die Uckermark etwa Nachtigallen? Berlin ist nicht nur die Wildtierhauptstadt des Landes, die Hauptstadt der deutschen Füchse, sondern auch die Nachtigallenhauptstadt. Außerhalb Berlins gibt es keine nennenswerten Nachtigallpopulationen.
Jeden Tag können sie aus Afrika eintreffen, zuerst die Sänger, die Männer, dann eine Woche später das Publikum, die Frauen. Die meisten Singvögel kennen nur drei Strophen, die Nachtigallen kennen 180. Und sie erreichen 95 Dezibel, das ist so laut wie eine Kettensäge aus einem Meter Entfernung. Die Nachtigallen wissen schon in Afrika genau, wohin sie wollen: in den Volkspark Friedrichshain. Und in den Treptower Park.