zum Hauptinhalt
Ein kühlendes Fußbad nehmen vier Spatzen am 5.8.2003 in einer Pfütze in Berlin
© dpa

Serie: Auf der Fährte (8): Alle Spatzen wollen nach Berlin

Der Spatz hat in Berlin sein perfektes Ökotop gefunden. Kein Wunder, der Vogel scheint wie gemacht für die Welthauptstadt der Wurstler und Pragmatiker.

Er baut von Federn, Haar und Stroh

Sein Nest geschwind und flüchtig,

Er denkt, die Sache geht schon so,

Die Schönheit ist nicht wichtig.

(Wilhelm Busch, Der Spatz)

Es ist nicht allzu wahrscheinlich, dass in Berlin eine große Bärenmüdigkeit ausbricht. Falls aber doch, dann steht das nächste Wappentier bereit: der Spatz. Weniger mächtig, weniger behäbig, aber bei aller Einsilbigkeit ebenso selbstbewusst und frei von falscher Bescheidenheit – und vor allem ein echter Berliner, der in dieser Stadt sein perfektes Ökotop gefunden hat und überhaupt nirgendwo anders leben möchte. Zumal er – Wilhelm Busch hat es skizziert – eine Geisteshaltung pflegt, die uns hier gut vertraut ist: Er denkt, die Sache geht schon so. Wie das alles zusammenhängt? Wir werden sehen.

Spatz - das ist der Haussperling

Wer sich mit dem Spatzen näher beschäftigt, der muss erst einmal die Nomenklatur bewältigen. Denn „Spatz“ nennen wir ja grundsätzlich den Haussperling, lateinisch Passer domesticus. Im Berliner Raum tschilpen aber auch noch allerhand Feldsperlinge (Passer montanus) herum, die der Fachmann an den schwarzen Wangenflecken erkennt. Da sie aber in der großen Stadt, um die es hier geht, kaum eine Rolle spielen, müssen sie jetzt den Abflug machen zurück an den Stadtrand, zu dem sie gehören.

Fragt man den vogelunkundigen Laien nach seinem Bild vom Spatzen, so wird er ein Tier zeichnen, das gewissermaßen der VW Golf unter den Vögeln ist, unscheinbar, vertraut, an jeder Ecke zu sehen und zu übersehen. Vor einem halben Jahrhundert, als Berlin noch auf dem Weg zur Wiederergrünung war, stand er mit den Kollegen Amsel, Taube und Krähe allein für „diese Vögel da draußen“.

Längst ist die ganze städtische Vogelschar viel bunter und vielfältiger geworden, aber er, der Spatz, ist immer noch vornweg, wenn es Kuchenkrümel zu picken gibt oder kalte Fritten im Sonnenlicht müffeln; er hat sich daran gewöhnt, dem Menschen nachzureisen und mit ihm in regelrechter Symbiose zu leben. Ornithologen beobachten häufig, dass Jungvögel von den Eltern angelernt werden, wie sie sich beispielsweise auf Café-Terrassen ihr Futter besorgen. Der Moment, in dem der Mensch die Geldbörse einsteckt und aufsteht, ist ihr Startsignal – dann geht das Restepicken los.

Ein Resteverwerter ist er

Ein Resteverwerter ist er also, der über die Jahrtausende tief gefallen ist aus den Höhen der griechischen Mythologie sowie Dichtkunst, der er als Fruchtbarkeitssymbol galt. In polierten Worten ruft die Dichterin Sappho, im Liebesschmerz gefangen, die zuständige Göttin Aphrodite herbei: „Dich zogen schöne schnelle Spatzen über der schwarzen Erde, flügelschwirrend, nieder vom Himmel durch die Mitte des Äthers.“ Das mit der Fruchtbarkeit stimmt zwar immer noch, jedenfalls in Berlin, aber es hat längst nicht mehr jenes göttliche Raunen und Funkeln, sondern ist dem biologischen Realismus gewichen, der alles über den Spatz zu wissen vorgibt.

Aber eben nicht alles weiß. An dieser Stelle müssen wir die Ornithologen Jörg Böhner und Klaus Witt vorstellen, zwei Männer, die alles, was es über den Berliner Haussperling zu berichten gibt, im Zweifelsfall selbst aufgeschrieben haben. Aber weshalb er gerade in Berlin so enorm fruchtbar geblieben ist, können auch sie nur ahnen. „Berlin ist eine Insel der Seligen!“, rufen beide unabhängig voneinander, jedenfalls in spatzenpolitischer Hinsicht. Hamburg. Köln. London! Furchtbar! Münster beispielsweise, sagt Böhner, sei „praktisch spatzentot“.

Schon im Jahr 2002, das hat auch der Laie mitbekommen, wurde der Spatz auf die rote Vorwarnliste der deutschen Brutvögel gesetzt, den Platz aller Tiere, deren Bestände rapide zurückgehen. In Berlin können die Vogelkundler dagegen so lange zählen, wie sie wollen: Da geht nichts zurück. Eine Viertelmillion flattert um uns herum, geschätzt rund 125 000 Brutpaare, sommers wie winters. Der Bestand sei langfristig stabil, schreibt Böhner in einer gerade druckfertigen neuen Veröffentlichung, „wesentliche Verschiebungen in der Lebensraumpräferenz des Haussperlings über die letzten zehn Jahre sind nicht erkennbar“.

Chöre sind nach ihm benannt - sein Geschilpe ist eher monoton

Ein Spatz sitzt am 30.03.2014 in Langenargen (Baden-Württemberg) in einem Cafe auf einem Tisch und schnappt sich eine Orangenschale.
Startsignal. Die Alten bringen es den Jungen bei: Greift der Mensch zur Brieftasche, ist es gleich so weit - auf zum Restepicken.
© Felix Kästle, picture alliance / dpa

Es gibt bestenfalls Vermutungen, weshalb da so ist. Berlin sei eben ein wenig schmuddliger als andere Städte, voran Hamburg, mutmaßt Böhner, „hier wird weniger gut durchgefegt“. Der Spatz ist ein Kulturfolger seit ewigen Zeiten, er hat vermutlich einst in den Steppen gelebt und sich an den Menschen angehängt, als dieser begann, sesshaft zu werden. Seitdem ist er darauf spezialisiert, von all dem zu leben, was beim Menschen so vom Tisch fällt. Und wenn der Mensch nun beschließt, nichts mehr draußen stehen zu lassen, wenn er seine Mülltonnen mit schweren Schlössern sichert und hinter sich alles gleich wegkärchert – dann hat der Spatz ein Problem.

Alte Häuser mit morschen Fassaden und lückenhaften Dächern, Spatzenparadiese mithin, werden saniert oder abgerissen und mit Kunststofffassaden versiegelt, in denen auch der hartnäckigste Vogel keinen Unterschlupf mehr findet; Baulücken voll bröckelnder Brandwände werden zugestopft mit gut abgedichteten Null-Energie-Designer-Lofts: Solche Dinge sind es, die den Vogel ärgern, seine Fruchtbarkeit dämpfen und die Bestände dezimieren. Viele Bauordnungen verpflichten den Bauherren schon zu ornithologischen Bestandsaufnahmen und gegebenenfalls dazu, Ersatz für geschlossene Nischen zu schaffen.

London ist fast spatzenfrei

Allerdings werden neue Fassaden ja auch in Berlin, der Spatzen-Hochburg, gebaut, und über das praktisch spatzenfreie London behauptet niemand, es sei besonders sauber, womöglich sauberer als Berlin. In Großbritannien, sagt Witt, sei sogar eine Belohnung ausgesetzt worden für eine schlüssige Erklärung, aber bislang erfolglos. Wichtig sei aber zweifellos ein großes Angebot an Insekten für die Jungvögel, die sich anders als ihre Eltern noch nicht von Körnern ernähren können.

Diese Insekten finden sich eher in Grünanlagen, die – berlinüblich – nicht besonders intensiv gepflegt werden. Englische Untersuchungen haben sogar Hinweise dafür geliefert, dass Spatzen besonders gern in Städten leben, deren sozioökonomischer Status schlecht ist, auch das würde die Hochburg Berlin erklären. Allerdings fühlen sie sich auch in Paris immer noch sehr wohl ...

Möglicherweise ist der Spatz beim Menschen ja deshalb so beliebt, weil er immer da ist und gar nicht daran denkt, sich vom Hof zu machen, wenn es draußen kühler wird. Anders als die viel beschimpfte Taube macht er keinen Dreck, schleppt keine Parasiten mit sich herum und lässt keine Federn liegen. Seine vorwitzige Art wird ihm als sympathische Frechheit gutgeschrieben, das bräsig Auftrumpfende der Krähe ist ihm fremd. „Die Leute mögen Spatzen“, sagt Böhner, „und das ist immer eine gute Voraussetzung für den Bestand.“ Er zitiert eine Untersuchung der Humboldt-Universität zu Fragen der Stadtqualität, bei der es am Rande auch um die Beliebtheit von Vögeln ging: „Auf einer Skala von 1 bis 5 lag der Spatz konstant immer zwischen 1 und 2.“

Der Vogel hob den Flügel zum Hitlergruß

Haussperlinge sind klein, niedlich, fröhlich, das mögen wir, auch wenn wir ihnen mit dem bösen Wort vom „Spatzenhirn“ durchaus Spielraum nach oben unterstellen, was die Intelligenz betrifft. Große Spatzen in der Geschichte sind in der Tat rar, im Grunde gibt es nur den einen, Clarence, das Wundertier der britischen Hobby-Ornithologin Clare Kipps. Er war in der Lage, seinen durch ein Unglück leicht beschädigten Flügel zum Hitlergruß zu heben, begann dann erst leise, schließlich heftiger zu tschilpen, und fiel schließlich, scheinbar ohnmächtig, von der Dose, die ihm als Podium diente – eine Darbietung, deren begeisterte Resonanz viel mit den Luftangriffen der Deutschen auf London im Zweiten Weltkrieg zu tun hatte. Clarence war angeblich enorme zwölf Jahre alt, als er 1952 den Schnabel zum letzten Mal schloss.

Auch die Gesangskunst des Spatzen kann nicht der Grund für die große Wertschätzung sein. Denn sein monotones Getschilpe ist so weit vom Niveau der Nachtigall und selbst der Amsel entfernt, dass es die Benennung der Regensburger Domspatzen genauso wenig erklären kann wie jene der Kastelruther oder Friedrichshainer Spatzen, deren Geschäftsmodell ja durchweg auf der Idee der melodischen Mehrstimmigkeit beruht.

Aber sogar Jörg Böhner, der unendlich viele glamourösere Vögel kennt, findet den durchschnittlichen Sperling überhaupt nicht langweilig, nein, sagt er, das sei ein sehr interessanter Vogel, „wegen seines Verhaltens im Schwarm zum Beispiel.“ Denn der Spatz funktioniert nur im Schwarm, allein kann er nicht überleben. 20 Vögel gehören dazu, manchmal auch hundert und mehr, „aber die Zeit der großen Schwärme ist vorbei“.

Wenn die Zeit reif ist im beginnenden Frühjahr, verpaart sich der Spatz, erinnert sich gern auch an den Partner der letzten Saison und gilt deshalb als tendenziell monogam; aber ein typisches Spatzenmännchen nutzt auch gern jede Gelegenheit zum Fremdgehen. Um die möglichen architektonischen Finessen des Nestbaus kümmert er sich dagegen nicht, er baut geschwind und flüchtig, wie schon Wilhelm Busch beobachtet hat, und er tut das vorwiegend in passenden Gebäudelücken, unter Dächern, in Nischen, an losen Fassadenteilen.

Das Ergebnis sind Eier, normalerweise an die fünf, die aber nur selten alle auch einen Jungvogel ergeben. Sind die Jungen da, kümmert sich auch der Vater, schleppt kräftige, proteinreiche Kost an wie Blattläuse oder Larven. Zwei oder sogar drei Bruten pro Saison sind möglich, dann zerfällt die kleine Familie, aber der Schwarm, aus dem sie kam, bleibt weiter zusammen durch Herbst und Winter, es gibt sehr wenig Austausch zwischen den Schwärmen, Haus- und Feldsperlinge bleiben sowieso unter sich. Die Bruthöhlen des Frühjahrs werden in dieser Zeit zumeist ignoriert, außer, es wird klirrend kalt und Schutz ist notwendig.

Gerade bei Kälte sind Spatzen für ihren Energiehaushalt auf Körnerfutter angewiesen – bleibt es aus, weil beispielsweise Eisregen die gesamte Landschaft versiegelt, kann es schon am zweiten Tag kritisch werden. Sonst hat ein landläufiger Spatz von seiner Umgebung nicht allzu viel zu befürchten: Raubvögel wie Sperber sind ein gewisses Problem, und in Berlin haben sich die sonst eher auf Mäuse versessenen Turmfalken auf Spatzen spezialisiert. Ab und zu schlägt auch mal eine wildernde Hauskatze zu, aber all das hat auf die Bestände keinen zählbaren Einfluss.

Wenn es in Berlin ans Zählen geht, dann muss zunächst ein Ausreißer beseitigt werden, nämlich der Zoologische Garten. Immer hüpfen dort mindestens doppelt so viel Spatzen herum wie in den appetitlichsten Wohnrevieren der Menschen, rund 30 Stück pro Hektar, ohne dass irgendein Tierpfleger sie auch nur eines Blickes würdigt. Aber sonst folgt der Berliner Spatz dem Menschen durchaus genau so gern wie den Giraffen und Elefanten. Am wohlsten fühlt er sich in Neubau-Wohnblockzonen, es folgen Altbau-Wohnblockzonen und die in Berlin eher seltenen Dörfer, während Parks, Einfamilienhaus-Siedlungen und Industriegebiete die Liste abschließen.

Warum ist das so? Das mit dem Neubau, so meint Böhner, liege an der perfekten Mischung von Brutnischen an den Gebäuden und viel Grün drumherum – ideal für den Bruterfolg, der letztlich darüber entscheidet, ob sich Populationen halten oder nicht. Im Altbau gibt es weniger Grün, in Parks und Villengegenden weniger Brutnischen, und um die Industrie herum wieder zu wenig Grün.

So entsteht also das Bild eines Vogels, der sich im Laufe seiner evolutionären Entwicklung so menschenähnlich gemacht hat, wie es einem Vogel nur möglich ist. Dass Berlin zu seinen bevorzugten Biotopen gehört, ist unter diesem Aspekt kein Wunder, denn die Welthauptstadt der Wurstler und Pragmatiker ist – wie bereits erwähnt – genau richtig für einen, der weiß, dass die Sache schon immer so irgendwie geht. Aber die Zuneigung ist ambivalent, wie ebenfalls schon Wilhelm Busch in seinen scharfsinnigen Versen festgestellt hat:

Ich rief: „Spatz, komm, ich füttre dich!“

Er faßt mich scharf ins Auge.

Er scheint zu glauben, daß auch ich

Im Grunde nicht viel tauge.

Bernd Matthies

Zur Startseite