Faktencheck zum Mützenich-Vorstoß: Die Nato kann die Türkei nicht rauswerfen
Der SPD-Fraktionschef stellt die Nato-Mitgliedschaft der Türkei infrage. Das widerspricht jedoch den Statuten der Allianz. Eine Analyse.
Der Fraktionsvorsitzende der SPD, Rolf Mützenich, hat die Frage aufgeworfen, ob die Türkei Mitglied der Nato bleiben kann. Mit dem Einmarsch in Nordsyrien breche die Türkei das Völkerrecht und verstoße gegen die Werte des Nordatlantikpakts, sagt er. Er fordert Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg auf, zu bewerten, welche Rolle die Türkei überhaupt noch in der Nato haben könne: "Es kommt eine große Aufgabe auf den Generalsekretär der Nato zu. Er wird sagen müssen, ob er weiter von der Verlässlichkeit der Türkei überzeugt ist."
Kann die Nato die Türkei ausschließen?
Aber geht das überhaupt, was Mützenich da verklausuliert fordert: Ein Verfahren gegen die Türkei in der Nato wegen Verstößen gegen Werte und Völkerrecht einzuleiten und sie eventuell aus der Allianz auszuschließen oder sie zumindest zum Austritt aufzufordern? Und wäre eine solche Entwicklung im deutschen Interesse?
Der Nato-Vertrag sieht aber weder ein Verfahren zur Prüfung des Wohlverhaltens noch einen Ausschluss vor. Mitglieder können lediglich von sich aus den Austritt erklären. Die Nato ist ein Verteidigungsbündnis. Ein Bekenntnis zu Werten und deren Einhaltung ist im Gründungsvertrag vom 4. April 1949 nicht vorgesehen. Dieser Aspekt wurde bei der Aufnahme neuer Mitglieder in den ersten Jahrzehnten auch nicht geprüft.
Das Gründungsmitglied Portugal war eine Militärdiktatur. In der Türkei und in Griechenland, die 1952 beitraten, putschte einige Jahre später das Militär; das führte aber nicht dazu, dass die Nato ihre Mitgliedschaft wieder in Frage stellte. Dies geschah auch nicht, als sich die Zypernkrise 1974 zuspitzte und die Türkei Nordzypern besetzte. [In einer früheren Version dieses Artikels stand fälschlich, die Türkei und Griechenland seien zum Zeitpunkt ihres Beitritts 1952 Militärdiktaturen gewesen.] Dagegen wurden Spanien (1982) und die jungen Demokratien in Ostmitteleuropa (1999, bzw. 2004) erst Mitglieder, nachdem sie die Diktatur dauerhaft überwunden hatten.
Der langjährige Bundesaußenminister Sigmar Gabriel und SPD-Parteikollege weist Mützenichs Vorstoß im Tagesspiegel als "skurril" zurück. Er liege nicht im deutschen Interesse; es drohe dann sogar der Griff der Türkei nach Atomwaffen. Die Forderung, die Mitgliedschaft der Türkei in der Nato wegen Präsident Erdogans Verhalten in Frage zu stellen, stehe zudem im Widerspruch zur langjährigen SPD-Linie, die EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei trotz Erdogan fortzusetzen.
Warnung vor dem Griff nach Atomwaffen
"Bis vor kurzem sollte nach Auffassung der SPD an den Verhandlungen mit der Türkei über die EU Mitgliedschaft festgehalten werden - trotz Erdogan. Jetzt stellt der SPD-Fraktionsvorsitzende sogar die türkische Mitgliedschaft in der Nato infrage", sagt Gabriel. "Klar ist eines: wer die Türkei aus der Nato drängt, mag sich selbst moralisch besser fühlen. Aber er wird verantwortlich dafür sein, was dann folgt. Denn nur die Nato-Mitgliedschaft hindert die Türkei daran, sich atomar zu bewaffnen", warnt Gabriel.
"Wollen wir wirklich ein neues großes Sicherheitsrisiko an der EU-Ostgrenze schaffen? Das ist der Grund, warum die Türkei selbst dann in der Nato blieb, als sie eine Militärdiktatur war und in Zypern einmarschierte. Griechenland übrigens auch. In der Politik geht es immer um beides: um Moral und um Interessen. Und im Interesse unserer Kinder ist es nicht, mit noch einem unkontrollierten Nuklearstaat zu tun zu haben", argumentiert der ehemalige SPD-Vorsitzende und Außenminister.
Daran stimmt: Ohne Nato-Mitgliedschaft kein Schutz durch die Atomwaffen des Bündnisses. Da andere Länder in der Region Atomwaffen haben oder danach streben – Russland, Iran, Israel – würde die Versuchung für die Türkei wachsen, sich Atomwaffen zu verschaffen.
Ist die Nato ein Wertebündnis?
In der allgemeinen politischen Debatte wird die Nato gelegentlich als "Wertebündnis" bezeichnet. Das geschieht insbesondere dann, wenn die Allianz oder einzelne Mitglieder unter Berufung auf die Humanität, die Menschenrechte und die Verhinderung von Kriegsverbrechen bis hin zu drohendem Völkermord über eine Intervention diskutieren, von Bosnien über den Kosovo und Afghanistan bis nach Libyen oder jetzt in Syrien.
Bei näherem Hinsehen war das jedoch weder die Gründungsidee 1949 noch ist dies später als Vertragszweck ausdrücklich aufgenommen worden.
In der Präambel des Vertrags bekennen sich die Gründungsmitglieder zu den "Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen und zum Wunsch, mit allen Völkern und mit allen Regierungen in Frieden zu leben. Sie sind entschlossen, die Freiheit, das gemeinsame Kulturerbe ihrer Völker, gegründet auf die Prinzipien der Demokratie, auf die Freiheit des einzelnen und die Grundsätze des Rechts, sicherzustellen. Sie sind bestrebt, die Stabilität und Wohlfahrt im nordatlantischen Gebiet zu fördern. Sie sind entschlossen, ihre Bemühungen um eine gemeinsame Verteidigung und um die Erhaltung von Frieden und Sicherheit zu vereinigen."
In den einzelnen Artikeln geht es dann aber vor allem um die Verteidigung des Bündnisgebietes gegen Angriffe von außen. Deren Kern ist die Beistandspflicht nach Artikel 5, dass "ein bewaffneter Angriff gegen einen oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle betrachtet werden wird".
Austritt aus der Nato geht seit 1969, Ausschluss nicht
In weiteren Artikeln wird die Aufnahme neuer Mitglieder geregelt. Die Allianz muss sie zum Beitritt einladen und ein Kandidatenland muss beitreten wollen und in der Lage sein, etwas zur Verteidigungsfähigkeit beizutragen.
Artikel 13 macht noch einmal klar, was 1949 das Ziel war: eine verlässliche Verteidigungsallianz gegen die Bedrohung durch die Sowjetunion und die mit ihr verbündeten sozialistischen Staaten für die nächsten mindestens zwei Jahrzehnte zu organisieren. Demnach kann ein Land den Austritt aus der Nato erklären, jedoch frühestens 20 Jahre nach ihrer Gründung, also 1969. Ein Ausschlussverfahren sieht der Vertrag nicht vor, auch keine Prüfung, ob Mitglieder sich an die Präambel und alle übrigen Vertragsklauseln halten.
Mützenich weiß das eigentlich, das legen seine Formulierungen nahe. Genau genommen schlägt er nicht der Nato den Ausschluss vor, sondern der Türkei den freiwilligen Austritt: "Jeder muss für sich selbst prüfen, ob er noch Teil der Nato sein kann und will. Das gilt auch und gerade für die Türkei." Zugleich legt er eine irreführende Fährte, wenn er fordert, der Nato-Generalsekretär müsse bewerten, welche Rolle die Türkei in der Nato noch spielen könne.
Mützenichs führt die Öffentlichkeit in die Irre
Gewiss weiß der erfahrene Politiker, wie sein Vorstoß in den Medien und der Öffentlichkeit aufgenommen wird: nicht als ein Hinweis, dass die Türkei zu entscheiden habe, ob sie Nato-Mitglied bleiben will. Sondern als überfällige Abwägung, ob die Nato die Türkei weiter als Mitglied haben wolle. Er suggeriert eine Entscheidungsfreiheit, die die Nato und ihre Mitglieder, darunter Deutschland, gar nicht haben.
Es ist zudem zweifelhaft, dass der Austritt der Türkei aus der Nato im deutschen Interesse liegt. Die SPD treibt freilich auch der Wunsch, sich selbst zurück ins Zentrum der Debatte zu bringen, nachdem die CDU-Vorsitzende und Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer eine Schutzzone in Nordsyrien vorgeschlagen hat, über die Deutschland seit Tagen diskutiert.