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Ungewissheit nach dem Siegestaumel. Die Frage ist, welche Aufgaben die Rebellen demnächst übernehmen werden. Die Übergangsregierung möchte ihnen Jobs in den Sicherheitskräften des Landes anbieten, um Fehler, wie sie im Irak gemacht wurden, zu vermeiden.
© AFP

Interview mit dem Vize des Übergangsrates: "Die Libyer waren Fremde in der Heimat"

Der Vizepremier der Übergangsregierung in Libyen Ali Abdussalam Tarhouni über den Zustand des Landes – und die wichtigsten Aufgaben.

Was sind die größten Herausforderungen für Libyens Zukunft nach Gaddafi?

Wir müssen erstens möglichst rasch die Polizei zurück auf die Straße bringen. Wir werden 90 Prozent der Polizisten behalten. Verhandlungen darüber laufen schon. Wir werden aber alle entlassen, die Blut an den Händen haben. Dasselbe gilt auch für die Armee. Wir werden nicht den Fehler machen, der im Irak gemacht wurde. Zweitens wollen wir eine große Anstrengung unternehmen, eine wirkliche nationale Armee aufzubauen. Wir werden allen Rebellenkämpfern anbieten, in die Polizei einzutreten oder in die Armee. Unser Ziel ist es, alle Kämpfer wieder einzugliedern, damit keine wilden Milizen entstehen. Drittens: Wir müssen die Bevölkerung so schnell wie möglich wieder entwaffnen. Es sind sehr viele Waffen unterwegs, Gaddafi hat Unmengen Gewehre und Pistolen ausgegeben.

Ali Abdussalam Tarhouni
Ali Abdussalam Tarhouni
© Katharina Eglau

Wie kann das Ausland helfen, Libyen nach dem Bürgerkrieg zu stabilisieren?

Das Wichtigste ist es, dass wir schnell den vollen Zugriff auf unser Staatsvermögen bekommen. Das ist unser Geld. Ich betone es: Dieses Geld gehört uns. Es gibt keinen Grund mehr, das Vermögen einzufrieren. Aber bei dieser Gelegenheit möchte ich die internationale Unterstützung loben: Man hat uns im Gegensatz zu anderen internationalen Interventionen geholfen, ohne an den eigenen Nutzen zu denken. Zum Beispiel Frankreich: Wir haben keine besonderen Beziehungen, Frankreich ist kein wichtiger Handelspartner Libyens, wir kaufen auch keine Waffen dort. Das gilt auch für Qatar oder die Vereinigten Arabischen Emirate. Und für die USA: Sie hätten abwarten können, um sich dann an die Seite des Siegers zu stellen. Präsident Obama aber hat seinen Kopf aus der Deckung gestreckt, obwohl er das nicht hätte tun müssen. Er ist ein ehrlicher Mann und steht zu seinen Überzeugungen. Das wissen wir zu schätzen.

Anders Deutschland – sind Sie noch enttäuscht über die mangelnde Unterstützung aus Berlin?

Enttäuschung ist ein persönliches Gefühl. Gefühle haben zwischen Nationen keinen Platz. Die Deutschen haben das getan, was sie damals für richtig hielten, und sie haben sich später etwas korrigiert. Das Ganze ist erledigt. Wir sollten uns nach vorne wenden.

"Wir sind ein Volk" - Befürchtungen, der Übergangsrat könnte von Stammesinteressen gespalten werden, kann Tarhouni nicht nachvollziehen. Lesen Sie weiter auf Seite 2.

Könnte ein Land, das Gaddafi Exil gewährt, normale Beziehungen zum neuen Libyen haben, etwa Algerien?

Kein Land wird Gaddafi Exil geben. Auch bei Algerien bezweifele ich das.

Mehr als 40 Jahre Diktatur haben die libysche Gesellschaft deformiert. Was wollen Sie dagegen tun?

Wir müssen den Menschen vor allem Dingen das Gefühl zurückgeben, dass ihnen Libyen gehört. Fragen Sie mal irgendwen auf der Straße. Er wird sagen, dass er sich nie als Teil dieses Landes gefühlt hat. Die Libyer waren Fremde in ihrer Heimat. Die Menschen müssen wieder Anteilseigner im eigenen Land werden. Dafür müssen wir den Lebensstandard rasch erhöhen und unsere Versprechen erfüllen: Politik muss transparent sein, der Rechtsstaat garantiert werden, Chancengleichheit im Wirtschaftsleben bestehen.

Viele sehen den Übergangsrat bereits vom Zerfall bedroht. Droht nach dem Sieg über Gaddafi die Spaltung des Rebellenrates und des ganzen Landes?

Ob der Osten, Westen oder Süden Libyens – das war für uns nie ein Thema. Ich bin immer erstaunt, dass ausländische Beobachter dies für bare Münze nehmen. Selbst westliche Außenminister, die mit uns reden, tun so, als ob dieses Problem real sei. Wir haben Regionen, ja. Aber wir sind ein Volk. Auch die Frage der Stämme, die Gaddafi immer manipuliert hat, spielt für uns keine solche Rolle. Ich weiß zum Beispiel von meinen engsten Mitarbeitern nicht, welchem Stamm sie angehören.

Aber der Rat scheint auch politisch gespalten zu sein. Islamisten stehen gegen Demokraten …

Was heißt schon Islamisten? Das ist eine Frage der Definition. Wir sind alle Muslime. Radikale Elemente wie Al Qaida – darüber muss man sich aber keine Sorgen machen. Natürlich gibt es in der Bevölkerung Konflikte und Meinungsverschiedenheiten. Aber das ist kein Problem, solange wir sie im Dialog und mit friedlichen Mitteln angehen.

Der Präsident des Nationalen Übergangsrates, Mustafa Abdul Dschalil, ist heute nicht mit Ihnen in Tripolis erschienen. Bedeutet das, dass die Rebellen die Hauptstadt nicht kontrollieren und der Übergangsrat bisher nicht Herr der Lage ist im gesamten Land?

Ich als Vizepremier der provisorischen Regierung bin hier und arbeite. Premierminister Mahmud Dschibril wird ebenfalls rasch kommen. Ob Ratspräsident Dschalil eine Woche früher oder später von Bengasi nach Tripolis wechselt, spielt am Ende doch keine Rolle. Er wird kommen. Und er wird in Tripolis das Ende des Gaddafi-Regimes ausrufen.

Ali Abdussalam Tarhouni (60) ist Vizepremierminister der nationalen Übergangsregierung. Er erklärte am Donnerstagabend in Tripolis offiziell, dass die Rebellenregierung von sofort an die Macht in der Hauptstadt übernimmt. Der Politiker arbeitete seit 1995 als Wirtschaftsprofessor an der University of Washington in Seattle. Seit März ist er Finanzminister und seit kurzem auch Ölminister in der Regierung der Aufständischen. Das Gespräch in Tripolis führte Martin Gehlen.

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