Libyen nach Gaddafi: Öl und Stämme
Das Schicksal des unberechenbaren Tyrannen Muammar al Gaddafi ist besiegelt. Doch trotz aller berechtigten Freude drängt sich zugleich die bange Frage auf: Wie wird es weitergehen in Libyen?
Der 22. August 2011 ist ein historischer Moment und ein guter Tag für Libyen und die Welt. Das Schicksal des unberechenbaren Tyrannen Muammar al Gaddafi ist besiegelt. Der selbsternannte Prophet, der das eigene Volk unterdrückt, die Welt mit Terror überzogen und an der Nase herumgeführt hat, ist entmachtet. Damit ist der Weg frei für die Libyer, ihr Schicksal selbst zu bestimmen, frei und hoffentlich demokratisch. Damit hat es nach Tunesien und Ägypten nicht nur ein weiteres arabisches Land geschafft, das Joch eines Diktators abzuschütteln und den „Arabischen Frühling“ voranzutreiben.
In Libyen ist erstmals ein Diktator gestürzt worden, der mit Waffengewalt bis zuletzt um seine Macht gekämpft hat und die Opposition militärisch niederringen wollte. So wie dies Baschar al Assad in Syrien tut, wo der Kampf andauert. Damit ist der Fall von Tripolis ein deutliches Signal an Assad und verbliebene autoritäre Herrscher, die Widerspruch mit Gewalt zu ersticken suchen: Auch ihr könnt stürzen. Mit der großen Einschränkung, dass dazu in Libyen die militärische Hilfe der Nato nötig war. Wenn die Nato dort mit UN-Mandat eingegriffen hat, geschah das auch mit dem unausgesprochenen Ziel, genau dieses Exempel zu statuieren. Das ist gelungen, und das ist historisch gesehen gut so. Dass die Nato dabei das UN-Mandat überschritten hat, ist allerdings schwerwiegend.
Zugleich drängt sich die bange Frage auf: Wie wird es weitergehen? Und hat sich der Westen wirklich auf die Seite der Guten geschlagen? Das Programm des Übergangsrats in Bengasi wirkt vernünftig, ebenso wie sein Präsident, der in seiner ersten Rede an die Nation auf Einbindung aller Kräfte gesetzt hat. Das Programm ist allerdings bisher nur Theorie auf dem Papier. Ob die lose Koalition verschiedener Kräfte, ob die Stämme, die Islamisten diese Vorstellungen mittragen, ist offen. Werden die jungen siegestrunkenen Rebellen ihre Waffen abgeben?
Der Vorteil für Libyen: Die arabisch-islamische Welt ist mittlerweile reich an Beispielen von Regimestürzen. Von Afghanistan über Irak, Tunesien und Ägypten. Aus den Fehlern, die dort gemacht wurden, können die Libyer lernen. Im Irak haben die USA Armee und Sicherheitsdienste aufgelöst – mit katastrophalen Folgen. Die strenge Entbaathifizierung bis hin zur Entfernung einfacher Parteimitglieder aus dem öffentlichen Dienst hat eine Versöhnung lange verhindert. In den beiden Nachbarländern, die friedliche Revolutionen hinter sich haben, werden die Schwierigkeiten des Übergangsprozesses sichtbar. Eile ist geboten, doch überhastete Wahlen sind nicht die Lösung. Um Frustration und Wutausbrüche der Straße zu verhindern, sind ein strikter Zeitplan und genau definierte Aufgaben der Übergangsorgane nötig.
Das Besondere an Libyen sind die Stämme und die Bodenschätze. Sie können Schwächen oder Stärken sein. Die Stämme können als Ordnungsmacht in einer chaotischen Übergangsphase wirken, sie haben ihre eigene Kultur der Verhandlungen. Sie müssen eingebunden werden, denn es wird neben der politischen Macht vor allem um die Verteilung der Einkünfte gehen. Und die sind in Libyen dank Öl- und Gasvorkommen beträchtlich. Das Erdöl war ein Fluch, weil es das Überleben des Regimes Gaddafi lange gesichert hat. Nun könnte ein Hauen und Stechen um die Einkünfte losgehen, die bald wieder sprudeln dürften, weil die Anlagen nicht so zerstört zu sein scheinen wie es in Irak der Fall war. Wenn es gelingt, diese Einkünfte einigermaßen gerecht auf alle Bevölkerungsgruppen zu verteilen, wären die Bodenschätze ein Segen.
Die Übergangsorgane könnten nicht nur die politischen Aspirationen vieler Libyer erfüllen. Sondern auch deren Forderungen. Die soziale Frage ist die große Hypothek, die auf der ägyptischen Revolution lastet. Das Land am Nil hat keine Kasse, aus der es kurzfristig die schreiende soziale Ungerechtigkeit mildern kann. In Libyen dürfte das anders sein. Für den Westen bedeutet dies: Er wird sich möglicherweise wundern über die Unabhängigkeit des neuen Libyen.