Drohende Überlastung durch die Coronakrise: „Die Lage für pflegende Angehörige ist dramatisch“
Der Pflegebeauftragte der Regierung warnt vor einer Überlastung Angehöriger wegen geschlossener Tagespflege-Einrichtungen. Kritiker fordern Finanzhilfen.
Der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, befürchtet eine Überlastung von pflegenden Angehörigen durch die Schließung zahlreicher Tagespflegeeinrichtungen in der Coronakrise. „Die Vielzahl an Rückmeldungen von Trägerverbänden, Pflegebedürftigen und deren pflegenden Angehörigen lassen erahnen, dass die Lage dramatisch ist“, sagte Westerfellhaus dem Tagesspiegel Background Gesundheit & E-Health.
„Gerade Tagespflegeeinrichtungen sollen ja pflegende Angehörige entlasten. Wenn aber diese Entlastung wegfällt, ist die Belastungsgrenze schnell erreicht. Ich möchte mir nicht ausmalen, was das im Einzelfall bedeutet.“
Auch der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK) sieht in den Schließungen große Probleme. „Tages- und Kurzzeitpflege waren eine wichtige Entlastung pflegender Angehöriger, nicht nur dann, wenn die berufstätig sind“, betonte Verbandsreferentin Johanna Knüppel. Und für die ambulant Gepflegten sei die Tagespflege „mit wichtigen Kontakten zu anderen ‚Leidensgenossen‘ verknüpft und mit guten und anregenden Beschäftigungsangeboten verbunden, die nun wegfallen“. Demenzkranken böten solche Einrichtungen zudem „eine wichtige und spezifisch für sie ausgerichtete Struktur für den Tag“.
Einige Länder haben Tagespflege bereits grundsätzlich untersagt
Genaue Zahlen über geschlossene Einrichtungen haben weder der Pflegebeauftragte noch die Verbände. Die Einschränkungen der Tages- und Kurzzeitpflege seien in den Bundesländern nicht einheitlich geregelt, sagt Knüppel. „Einige Länder haben sie grundsätzlich untersagt, andere eingeschränkt – auch im Zuge des Kontaktverbots.“ Manche Einrichtungen hätten „beispielsweise die Zahl ihrer Plätze reduziert, um Abstände einzuhalten, aber auch, wenn Mitarbeiter in Quarantäne mussten oder wegen Erkrankung ausfielen“.
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Und dann gibt es natürlich auch viele Angehörige, die es wegen des Infektionsrisikos nicht wagen, ihre Pflegebedürftigen in noch geöffnete Einrichtungen zu schicken. Experten bestärken sie in dieser Vorsichtsmaßnahme. Sofern es sich organisatorisch einrichten lasse, sei es allemal sicherer, die Pflegebedürftigen zuhause zu lassen, sagt beispielsweise Andreas Leischker, Chefarzt der Klinik für Geriatrie im Alexianer Krankenhaus Krefeld. Jeder zusätzliche Kontakt erhöhe nun mal das Risiko für alte und pflegebedürftige Menschen.
Auch ausländische Haushaltshilfen werden rar
Erschwerend für die pflegenden Angehörigen und ihre Schützlinge kommt hinzu, dass aufgrund der Coronakrise nun auch zunehmend die ausländischen Haushaltshilfen rar werden. Geschätzt arbeiteten hierzulande etwa 300.000 davon in der 24-Stunden-Betreuung, sagt Knüppel. Meist handle es sich dabei um Osteuropäerinnen. Und natürlich seien diese oft nirgendwo registrierten Hilfskräfte systemrelevant. „Wenn das wegbricht, kann diese Versorgung nicht durch die bestehenden Strukturen aufgefangen werden.“
Dieser graue und ungeregelte Markt sei „seit Langem ein Feld, das politisch niemand anrühren will, vermutlich weil keiner eine Alternativlösung parat hat“, so die Pflegeexpertin. „Die Pandemie wirft jetzt noch einmal wieder ein grelles Licht auf die Problematik und sie gehört zu den großen Themen, die nach Abklingen der Krise dringend auf die politische Agenda gehören.“ Momentan könne man nur hoffen, dass viele Haushaltshilfen ihre Einsätze verlängerten, etwa weil sie der Ausreise in ihrem Heimatland in Quarantäne müssten. Aber ewig geht das nicht. Und ob nach den Osterfeiertagen noch Ablösungen einreisten, sei „derzeit sehr fraglich“.
Möglichkeit der Kostenerstattung für Ersatzbetreuung
Westerfellhaus betonte, dass Pflegepersonal aus dem Osten dank einer Absprache zwischen Polen und Deutschland, die Außengrenze passieren dürfe. Allerdings müsse dafür natürlich ein Arbeitsvertrag vorgelegt werden – den viele nicht haben. Kurzfristig könne er „jeder betroffenen Familie nur raten, sich an ihre Vermittlungsagentur zu wenden und nach Lösungen zu fragen“, so der Staatsekretär. Auch die Pflegekasse sei „ein wichtiger Ansprechpartner mit der Aufgabe, eine Versorgungslösung zu finden“.
Was die ausfallende Tagespflege betrifft, gebe es immerhin Ausweichmöglichkeiten, so Westerfellhaus. Er sei „froh, dass mit dem Rettungspaket für die Krankenhäuser auch an die pflegenden Angehörigen gedacht wurde“, sagte der Pflegebevollmächtigte. Die Pflegekassen könnten hier jetzt Kostenerstattung in Höhe der ambulanten Sachleistungsbeträge gewähren. „Steht kein Dienst zur Verfügung kann damit sogar private Hilfe bezahlt und auf Nachweis erstattet werden.“ Damit seien flexible Lösungen möglich.
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Patientenschützer fordern Direktauszahlung
Allerdings liegt die Höhe der Vergütung bei einer solchen Kostenerstattung im Ermessen der jeweiligen Pflegekasse. „Je höher die Qualifikation des Leistungserbringers, desto höher fällt die Vergütung aus“, heißt es in den Voraussetzungen dafür. Kritikern reicht das nicht. So fordert die Deutsche Stiftung Patientenschutz, das Geld für Kurzzeitpflege und Tagespflege in diesem Jahr direkt auszuzahlen. Das seien immerhin bis zu 3.600 Euro, sagte Vorstand Eugen Brysch.
[Dieser Text erschien im Tagesspiegel Background Gesundheit & E-Health, dem täglichen Briefing für Entscheider. Zur Anmeldung geht es hier.]
Zudem müssten jetzt „leerstehende Reha-Einrichtungen, Landschulheime oder Hotels sofort für die Kurzzeitpflege genutzt werden“, fordert Brysch. „Es ist Zeit, dass Bund, Länder und Kommunen endlich konkrete Lösungen für die Krise präsentieren.“ Die Konkurrenz um die rund 41.700 Kurzzeitpflegeplätze sei schon vor der Corona-Krise groß gewesen.
Und nicht nur pflegende Angehörige hätten jetzt ein Riesenproblem. Allein 60 Prozent der Plätze würden von Patienten belegt, die nach dem Krankenhaus nicht direkt nach Hause entlassen werden können. „Jetzt bricht diese wichtige Entlastung für die Hospitäler weg. Doch freie Krankenhausbetten werden dringend gebraucht."
Hilfe für Angehörige in Berlin
Aufgrund der Coronakrise hat die Berliner Beratungsstelle Pflege in Not ihre Beratungszeit für pflegende Angehörige jetzt verdreifacht. Die Beratungs- und Beschwerdestelle Pflege bietet Hilfemöglichkeiten in Gewalt- und Konfliktsituationen an, für Pflegepersonal, Betroffene und Angehörige. Die Hotline ist jetzt von Montag bis Freitag zwischen 10 und 16 Uhr und am Samstag von 10 bis 14 Uhr zu erreichen, die Nummer des Beratungstelefons ist 030 - 69 59 89 89.
„Wir wissen, dass in dieser zugespitzten Situation der tatsächlichen 24 Stundenpflege ohne Entlastungsmöglichkeiten von außen, Überforderung, Erschöpfung und Angst zu Aggressionen und konflikthaften Pflegesituationen führen können. In unserer Beratung fallen Sätze wie „Wenn ich ihn jetzt den ganzen Tag zu Hause habe, weiß ich nicht was mit uns passiert!“, äußert sich die Projektleiterin Gabriele Tammen-Parr in einer Pressemitteilung. Von etwa 136.000 Pflegebedürftigen in Berlin werden über 70 Prozent zu Hause von Angehörigen gepflegt.