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Die Aufnahme der Geflüchteten organisieren bislang vor allem freiwillige Helfer.
© Jonas Walzberg/dpa

„Bundesregierung ist sehr spät aufgewacht“: Die Kritik an Verteilung und Versorgung der Flüchtlinge wächst

Zehntausende Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine erreichen Tag für Tag Deutschland. Für die Bundesregierung wird nicht nur ihre Unterbringung zum Problem.

Innenministerin Nancy Faeser will sich offenbar einen Eindruck verschaffen, was Deutschland noch erwartet. An diesem Donnerstag wird die SPD-Politikerin an die polnisch-ukrainische Grenze reisen und eine Aufnahmeeinrichtung in dem Land besuchen, das in nicht einmal zwei Wochen rund 1,3 Millionen Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen hat.

Von den polnischen Nachbarn kann sich die Innenministerin wohl den ein oder anderen Ratschlag auf den Weg mitgeben lassen. Denn auch Deutschland steht zunehmend vor Migrationsströmungen, wie man sie selbst 2015 nicht erlebt hat.

Seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine wurde die Ankunft von 80.035 Kriegsflüchtlingen festgestellt. Das teilte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums am Mittwoch mit. Doch die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. Zwar hat die Bundespolizei ihre Präsenz an den Grenzen zu Polen und Tschechien verstärkt, doch stationäre Kontrollen gibt es nicht, zudem dürfen die Ukrainer wie Touristen einreisen.

Ein festes Verteilsystem der Flüchtlinge existiert nicht und so trägt bislang Berlin die Hauptlast. In den vergangenen sechs Tagen sind in der Hauptstadt mehr als 70.000 Menschen angekommen. Allein am Dienstag seien es 15 000 in nur 24 Stunden gewesen. 15.000 Menschen, die ein Bett, sanitäre Anlagen, Verpflegung, Kleidung und teils psychologische Hilfe benötigen.

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Ohne die gewaltige Unterstützung freiwilliger Helfer wäre dies momentan nicht möglich. Doch die Unterbringung ist nicht das einzige Problem, vor dem die deutschen Behörden stehen. Um eine schnelle Integration zu ermöglichen, schafft das Land Berlin ad hoc 50 Willkommensklassen für Jugendliche ab 16 Jahren, die teilweise bereits ihre Berufe lernen. Denn im Rahmen der europäischen Massenzustroms-Richtlinie sollen die Ukrainer auch schnell und unbürokratisch Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten. Ohne eine enorme Zahl an Sprachkursen wird das jedoch nicht zeitnah gelingen, auch hier müssen nun Kapazitäten ausgebaut werden.

Und es stellen sich noch viele weitere Fragen: Wie sieht es mit dem Zugang der Geflüchteten zum Gesundheitssystem aus? Zudem haben die Menschen ein Anrecht auf Sozialleistungen. In welcher Höhe, wo sie sich dafür registrieren müssen – alles ungeklärt.

Kritik kommt nicht mehr nur aus Berlin. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hat vom Bund eine bessere Koordinierung der Flüchtlingspolitik gefordert. Dies müsse ein zentrales Thema der Bund-Länder-Runde in der kommenden Woche sein, sagte Söder beim Besuch einer Flüchtlingsunterkunft in München. Auch Bayern habe inzwischen 20.000 Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen, die meisten sind offenbar über die Slowakei und Tschechien eingereist.

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Söder fordert, der Bund müsse einen zentralen „Koordinierungsrat“ einrichten. „Wir brauchen da klare Regeln, auch der Finanzierung“, sagte Söder. Wie bei der Flüchtlingsbewegung 2015 brauche es Unterstützung des Bundes für die Kommunen – dies könnten die Länder nicht alleine leisten. „Deswegen braucht es hier eine nationale Kraftanstrengung, eine zentrale Unterstützung und auch eine klare finanzielle Regelung.“

Zuvor hatte bereits CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt eine Verteilung der Geflüchteten nach dem Königsteiner Schlüssel gefordert. Es dürfe nicht sein, dass Geflüchtete nur in Großstädten landeten. Der Berliner Senat verhandelt schon seit Beginn vergangener Woche über eine bessere Verteilung der Flüchtlinge. Erst am vergangenen Samstag soll das Innenministerium angefangen haben, die Koordination der Kommunikation mit Verkehrsministerium, den anderen Bundesländern und Deutscher Bahn zu übernehmen. Davor haben Senatsvertreter die Verteilung in Deutschland übernommen und teils telefonisch um Busse und Unterkünfte für die vielen Menschen aus der Ukraine gebeten. Diese Darstellung aus Berliner Regierungskreisen wird aus anderen Bundesländern bestätigt. „Die Bundesregierung ist sehr spät aufgewacht“, sagt eine hochrangige Beamtin aus dem Asylwesen eines norddeutschen Bundeslandes.

In Berlin kommen Tag für Tag mehr Geflüchtete aus der Ukraine an.
In Berlin kommen Tag für Tag mehr Geflüchtete aus der Ukraine an.
© Fabian Sommer/dpa

Im Berliner Senat will man keine Schuldzuweisungen vornehmen, wartet aber dringend auf Entlastung: Die bisherigen Maßnahmen könnten nur ein Anfang sein, hatte Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) schon am Wochenende im Gespräch mit dem Tagesspiegel gesagt. In den Verhandlungen mit der Bundesebene und andern Ländern hatte sich das Land dafür eingesetzt, dass zumindest einige der Busse oder Züge gar nicht erst nach Berlin kommen. Andererseits wurden dringend Busse benötigt, um Menschen aus Berlin weiter in Deutschland zu verteilen.

Migrationsforscher: Ukrainer werden bleiben

Für beide Forderungen wurden nun erste Lösungsansätze gefunden. Bis zu 300 Fahrzeuge stehen nach Angaben der Bahn seit Dienstag bereit. Damit könnten kurzfristig täglich rund 13.000 Menschen flexibel weiterbefördert werden, teilte ein Bahnsprecher mit. So soll die Bahn Flüchtlinge von der polnisch-deutschen Grenze nicht mehr nur nach Berlin bringen, sondern vor allem mit Bussen in Ostdeutschland verteilen. Gleichzeitig sollen nach Informationen des Tagesspiegel mehrere Züge am Tag von Frankfurt/Oder direkt nach Hannover fahren und nicht in Berlin halten. Von dort sollen die Menschen dann im Westen der Republik verteilt werden. Schon seit Sonntag bringen Busse Menschen vom Hauptbahnhof direkt in andere Bundesländer. Das beruht allerdings auf Freiwilligkeit.

Man stehe vor einem Marathon, sagte der Migrationsexperte Gerald Knaus der „Augsburger Allgemeinen“. Die meisten Ukrainer würden wohl lange bleiben. „Da Putin jetzt – offenbar zu seiner Überraschung – bemerkt, dass es sehr wohl eine starke ukrainische Identität gibt, dass sogar die mehrheitlich russischsprachigen Städte Charkiw oder Odessa sich gegen seine Invasion und für ihre Demokratie mobilisieren, setzt er auf die Vertreibung der Menschen“, sagte Knaus. Staatliche Strukturen müssten jetzt schnell aufgebaut werden, sagte er. „Die Zahlen werden weiter steigen.“

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