Mit Richtlinie, die noch nie genutzt wurde: Die EU will unbürokratisch alle Flüchtlinge aus der Ukraine aufnehmen
Flüchtlinge aus der Ukraine sollen in der EU für bis zu drei Jahre einen Schutzstatus erhalten – sowie Zugang zur Krankenversicherung und zum Arbeitsmarkt.
Gerade einmal eine Woche ist es her, dass die ersten russischen Raketen in der Ukraine einschlugen. Seitdem ist Krieg. Panzer rollen, Bomben fallen, Soldaten und Zivilisten sterben – und immer mehr Ukrainer sind panisch auf der Flucht in Richtung Westen. Auf rund eine Millionen schätzen die Vereinten Nationen die Zahl der Menschen, die bereits jetzt innerhalb der Ukraine fliehen. Das Land verlassen dürfen aktuell nur Frauen, Kinder und Männer über 60 Jahre. Doch die Flüchtlingszahlen sind so hoch, dass sich bereits seit Tagen an allen Grenzübergängen zu Polen, aber auch zu Moldawien, Ungarn, Rumänien und der Slowakei Warteschlangen gebildet haben. Die Abfertigung dauert in der Regel mehrere Stunden, teils Tage.
Die Europäische Union will nun auf den überraschenden Flüchtlingsstrom an ihren Außengrenzen reagieren. Beim Treffen der EU-Innenminister an diesem Donnerstag in Brüssel werden die Mitgliedsstaaten dafür voraussichtlich erstmals von einem juristischen Instrument für die Massenmigration Gebrauch machen, der sogenannten Massenzustrom-Richtlinie.
„Die Rechtsgrundlage, die nach den Balkan-Kriegen geschaffen wurde, wenden wir erstmals an“, kündigte Innenministerin Nancy Faeser vorab in der „Rheinischen Post“ an. Geflüchtete aus der Ukraine erhalten einen vorübergehenden Schutz in der EU für bis zu drei Jahre, so der Plan der Sozialdemokratin.
In der EU scheint es große Zustimmung für diese unbürokratische Lösung zu geben. Sie wird benötigt, weil normalerweise eine visumsfreie Einreise in die EU nur für 90 Tage möglich ist. Nach Angaben aus EU-Diplomatenkreisen wird bei dem Treffen der Innenminister an diesem Donnerstag eine politische Grundsatzentscheidung über die Aktivierung der Massenzustrom-Richtlinie erwartet.
Anschließend müssen demnach im Kreis der Mitgliedstaaten noch technische Details beraten werden, weil die Richtlinie von 2001 nicht mehr den gegenwärtigen rechtlichen Stand abbildet. Mit der Massenzustrom-Richtlinie können Flüchtlinge aus der Ukraine in der EU Asyl beantragen, müssen dies aber nicht tun.
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In der Ampel-Koalition unterstützt man die Entscheidung der Innenministerin. „Wir wenden jetzt ein Rechtsinstrument an, das genau für diesen Fall konzipiert wurde“, sagte Konstantin Kuhle, stellvertretender Vorsitzender der FDP-Fraktion im Bundestag, dem Tagesspiegel. Es werde damit kein Präzedenzfall für Konflikte und Kriege in anderen Weltregionen geschaffen, so Kuhle.
Der Innenpolitiker rechnet wegen der zunehmenden Brutalität der russischen Seite mit einer sich verstärkenden Fluchtbewegung. Angesichts der Aktivierung der Massenzustrom-Richtlinie erwartet er jedoch keine überproportionalen Flüchtlingsströme nach Deutschland: „Die Hauptlast der Vertriebenenbewegung wird aktuell von Polen getragen.“ Nach Polen hätten viele Ukrainer schon jetzt kulturelle, familiäre, sprachliche und berufliche Verbindungen. „Die Aufgabe Deutschlands und der EU wird es sein, die polnische Regierung und Gesellschaft zu unterstützen“, sagte Kuhle weiter.
Doch auch in Deutschland wappnet man sich für eine signifikante Zunahme der Zahlen der Flüchtlinge aus der Ukraine. Bis Mittwoch seien rund 5300 Kriegsflüchtlinge von der Bundespolizei in Deutschland festgestellt wurden, hieß es aus dem Innenministerium in Berlin. „Wir regeln jetzt schnellstens, dass auch Krankenversicherungsschutz und der Zugang zum Arbeitsmarkt in Deutschland für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine bestehen wird“, kündigte Ministerin Faeser an.
FDP-Politiker Kuhle: "Wir müssen Asylverfahren beschleunigen"
FDP-Politiker Kuhle begrüßte die Entscheidung und forderte zudem, dass die Kommunen beim Ausbau von Integrationskursen unterstützt werden müssten. „Die Hauptintegrationsarbeit wird immer von den Leuten vor Ort geleistet“, sagte er. Angesichts des Kriegs in der Ukraine müsse die Bundesregierung nun schnell die migrationspolitischen Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag vorantreiben: „Wir müssen Asylverfahren beschleunigen und mehr Kapazitäten für Menschen schaffen, die wirklich Hilfe brauchen“, sagte Kuhle.
Dass die Diskussion unter den EU-Mitgliedstaaten über die Aktivierung der Richtlinie relativ geräuschlos verläuft, liegt daran, dass die Aufnahme der Flüchtlinge auf freiwilliger Basis erfolgt. Anders war die Ausgangslage im Jahr 2015: Angesichts des syrischen Bürgerkrieges und der folgenden Flüchtlingskrise fassten die Staaten der Europäischen Union seinerzeit einen Beschluss, der unter den Mitgliedsländern feste Quoten zur Umverteilung vorsah.
Das Prozedere sieht jetzt hingegen vor, dass die Mitgliedstaaten gegenüber der EU-Kommission mitteilen, wie viele Bürgerkriegsflüchtlinge aus der Ukraine sie nach dem jeweiligen gegenwärtigen Stand aufnehmen können. Das schließe nicht aus, das die Mitgliedstaaten im Verlauf des Krieges höhere Kontingente nach Brüssel melden könnten, hieß es aus den EU-Diplomatenkreisen. Große Staaten wie Deutschland und Frankreich hätten demnach bislang noch keine Zahlen genannt, hieß es am Mittwoch weiter. Den Planungen zufolge soll die EU-Kommission mit Blick auf die Flüchtlinge aus der Ukraine eine Steuerungsfunktion erhalten. Auf diesem Wege sollen die Lasten unter den Mitgliedstaaten verteilt werden.
In Brüssel wird betont, dass sich die Aktivierung der Massenzustrom-Richtlinie allein auf den Krieg in der Ukraine bezieht. Die Richtlinie soll nicht nur für ukrainische Staatsangehörige gelten. Auch Nicht-Ukrainer und Staatenlose, die sich legal in der Ukraine aufhalten, werden von der Massenzustrom-Richtlinie erfasst, sofern sie nicht mehr in ihre Herkunftsländer zurückkehren können. Vorgesehen ist darüber hinaus ein unbürokratisches Verfahren für all jene Flüchtlinge, die in der EU einen Arbeitsplatz finden. In diesem Fall würden sie nicht mehr der Richtline unterliegen, sondern könnten ein Arbeitsvisum erhalten.