zum Hauptinhalt
Angela Merkel bei ihrem Besuch in Heidenau am Mittwoch.
© AFP PHOTO / TOBIAS SCHWARZ

Die Bundeskanzlerin und die Flüchtlinge: Die Krise der Angela Merkel

Lange hat sie offenbar geglaubt, die Flüchtlingsfrage sei mit ein bisschen Organisation schon zu bewältigen. Aber das Problem ist größer. Kanzlerin Angela Merkel steht vor der schwierigsten Herausforderung ihrer Amtszeit.

Angela Merkel ist keine Frau der großen Worte. Sie hält es gern nüchtern. Wenn also die Kanzlerin vor einem ehemaligen Baumarkt steht, mitten in der sächsischen Schweiz, in Heidenau, und ihr die Worte gar nicht groß genug sein können, dann muss etwas falsch laufen im Land. Von „Außergewöhnlichem“ spricht sie, von den „neuen Wegen“, die nun zu gehen seien und von der „riesigen Herausforderung“. Solche Sätze hört man selten von ihr. Aber es ist ja auch unerhört, was in den vergangenen Wochen und Monaten geschehen ist.

Hier in Heidenau, im Süden von Dresden, wohnen seit dem Wochenende fast 600 Flüchtlinge. Männer, Frauen und Kinder. Zwei Stunden lang hat Merkel mit ihnen gesprochen. Sie hat die Pritschen gesehen, auf denen sie schlafen, die Tücher, die von der Decke hängen und die Halle notdürftig teilen. Und natürlich den Zaun, die Sicherheitszone rund um die Behausung. Und die Polizisten, die die Flüchtlinge schützen sollen, seit ein Mob zwei Nächte lang gegen sie rebelliert hat. Zu Jahresbeginn hatte die Kanzlerin vor den Ausländerfeinden der sächsischen Pegida gewarnt, „Hass (ist) in deren Herzen“, hatte sie gesagt und dass man denen nicht hinterher laufen soll.

Jetzt, neun Monate später, flogen Brandsätze auf die Flüchtlinge in Heidenau, werden überall in Deutschland Unterkünfte angegriffen, Menschen angepöbelt, die fremd wirken. Seit die Zahlen der aus Syrien, Pakistan und anderen Krisen- und Kriegsgebieten Flüchtenden dramatisch ansteigen, hat die Kanzlerin zum ersten Mal mit ihnen gesprochen, sich dort ein Bild gemacht, wo sie ankommen und wahrscheinlich für Monate leben müssen. „Abstoßend und beschämend“ sei der Hass, sagt Merkel in Richtung der Heidenauer Zaungäste.

Und dann fährt sie auch schon weiter. Sie muss nach Wien. Dort trifft sie am Donnerstag die Regierungschefs der Länder des Westbalkans. Noch mehr Probleme: Auch aus diesen Ländern strömen Hunderttausende in Richtung Norden, hoffen auf ein besseres Leben, drängen in die Zeltunterkünfte in Deutschland, obwohl sie keine Chance haben auf Asyl. Merkel muss das irgendwie stoppen.

Ein Termin jagt den anderen

Was für eine Woche. Am Montag hat die Kanzlerin neben dem französischen Staatspräsidenten gestanden und den Italienern versprochen, ihnen bei der Bewältigung der vielen Flüchtlinge zu helfen. Am Mittwoch stemmt sie sich in Sachsen gegen aufkommenden Unmut in Deutschland, die Fremden, die da kommen, aufzunehmen. Dann stellt sie in Wien Wirtschaftshilfen in Aussicht, damit nicht noch viel mehr Flüchtlinge kommen. Und zwischendurch gehen erschütternde Bilder um die Welt: überfüllte Zeltstädte in Deutschland, Bootsflüchtlinge im Mittelmeer und natürlich die braune Brut mit ihren Symbolen des Terrors. Was da auf Angela Merkel zurollt, mit rasender Geschwindigkeit, das ist von einer Dimension, die selbst diese krisenerfahrene Kanzlerin noch nicht erlebt hat: Es zerrt am inneren Frieden Deutschlands und es zerreißt die europäische Gemeinschaft.

Angela Merkel hat den Euro und die deutschen Banken gerettet, dem russischen Präsidenten die Stirn geboten und Griechenland gegen viel Widerstand in der Währungsunion gehalten. Nun scheint es, als ob das alles ein Leichtes war und ihr mit dieser Flüchtlingskrise nun die eigentliche, die größte Bewährungsprobe bevor steht.

Und was tut sie? Das, was Angela Merkel immer tut, wenn es ernst wird. Sie wartet ab. Zumindest sieht es von außen so aus. Anders als andere Politiker im Land hat sie sich erst in dieser Woche eine Flüchtlingsunterkunft angesehen. Als der Bundestag vor ein paar Tagen in der Sommerpause in Berlin zusammen kam, um die Griechen-Milliarden abzusegnen, sagte sie kein Wort zu dem Thema, das alle bedrückt. Was übrigens auch in ihrer eigenen Fraktion unangenehm aufgefallen ist. Und auch jetzt wieder, als sich in Heidenau am Wochenende die Rechten mit der Polizei Straßenschlachten lieferten, blieb Merkel seltsam unsichtbar.

Fehlt dieser Kanzlerin das Gespür für den Moment, an dem ein Wort der Regierungschefin nötig ist? Oder steht womöglich etwas viel Banaleres dahinter? Merkels ganz praktische Erfahrung, dass die Krisen immer auf sie zutreiben. Bei der Euro-Rettung war das so. Beim ersten Griechenland-Hilfspaket auch. Und das Wissen darum, dass jede zu frühe Festlegung zum Schluss doch nur dazu führt, dass sie alte Positionen mühsam räumen und neue vertreten muss. Man mag sich wundern, sich mehr Empathie und darstellende Führungskraft dieser Kanzlerin wünschen. Trotzdem haben die Wähler ihr bisher die Treue gehalten.

Und warum sollte das dieses Mal anders sein? Die Deutschen haben auch jetzt noch ein großes Herz für die Flüchtlinge. Das jedenfalls sagen die Umfragen. Kein Grund für Merkel, in beschwörenden Reden Menschlichkeit einzufordern. Was erwartet wird von ihrer Regierung, sind ordentliche Unterkünfte, keine Randale in der Nachbarschaft und ein Stoppsignal für jene Asylbewerber, die nicht vor Kriegen und Verfolgung flüchten. Die Leute wollen anständig regiert werden. Die Zeit für Diskussionen über die Zukunft, über Einwanderungsgesetze und all das, was eine Gesellschaft verändert, wenn sich das Gefüge durch den großen Zustrom von Menschen anderer Kulturen und Religionen verschiebt, ist noch nicht gekommen. Jedenfalls nicht für die Kanzlerin.

Die Suche nach dem richtigen Ton

Lediglich ein kleines Mädchen hat die Krisenstrategie der mächtigsten Frau Europas für einen Moment ins Wanken gebracht. Reem heißt die Kleine, Palästinenserin, perfekt integriert in Rostock und trotzdem von Abschiebung bedroht. Ausgerechnet ihr musste Merkel im Juli begegnen und war sichtlich überfordert mit den Tränen von Reem und ihrer entwaffnenden Frage, warum sie abgeschoben werden muss, obwohl sie doch alles getan hat, um hier in Deutschland bleiben zu können. Merkel reagierte formalistisch, ja kaltherzig. Sie wird daraus gelernt haben.

In dieser Krise geht es nicht nur um Banken, Milliarden und Investments. Hier werden fundamentale Bereiche des menschlichen Miteinanders berührt. Als die Kanzlerin am Dienstag zwei lange Stunden mit Bürgern aus dem Duisburger Problembezirk Marxloh diskutierte, hörte man Verständnis und Einfühlsamkeit aus den Worten der Kanzlerin heraus. Merkel sucht ganz offenbar noch ihren Ton für diese Krise, den Weg, wie sie ihre Politik angemessen erklären kann. „Solidarität nur für Gegenleistung“ oder „stirbt der Euro, stirbt Europa“ waren ihre Formeln für die Finanzkrisen der Vergangenheit. Jetzt, wo menschliche Schicksale und weltanschauliche Überzeugungen betroffen sind, wird das Formulieren schwerer. Der Streit um Christian Wulffs Satz „Der Islam gehört zu Deutschland“ wird Merkel ein warnendes Beispiel sein.

Derweil ist ohnehin Handfesteres zu tun. Ohne allzu viel öffentliche Aufmerksamkeit. Ordentliches Regieren. In spätestens vier Wochen wird es nämlich kalt, und die Menschen, die jetzt noch in Zelten untergebracht werden, müssen spätestens dann in feste Gebäude oder eben in beheizbare Container umziehen. Aber die Hersteller der Wohncontainer können in so kurzer Zeit nicht liefern, was gebraucht wird. Und weder in ungenutzten Kasernen noch in Verwaltungsgebäuden können Menschen untergebracht werden, die schlafen, essen, sich waschen und auch noch ein Stück Privatheit erhalten sollen. Bauvorschriften sind zu ändern, Brandschutzbestimmungen zu kippen. Ein Essenslieferant hat kürzlich vor einem deutschen Verwaltungsgericht Recht bekommen, weil er nachweisen konnte, dass die örtliche Essenversorgung der Flüchtlinge nicht – wie es Gesetz und Ordnung verlangen – europaweit ausgeschrieben wurde. Monatelang hat die Regierung geglaubt, dass Innenminister Thomas de Maizière die Sache schon richten werde, wenn er sich regelmäßig mit den Bundesländern und den Kommunen trifft.

Die Krise ist jetzt „Chefsache“

Doch nun droht an allen Ecken und Enden das gut durchdachte deutsche Behördensystem zu scheitern. Zu schnell kommen zu viele Flüchtlinge nach, zu groß sind die Probleme der Helfer und der Bürgermeister vor Ort. Die Stimmung droht zu kippen. Als Angela Merkel aus dem Sommerurlaub kam, war klar, dass die schöne deutsche Ordnung der föderalen Verantwortlichkeit und Bürokratie zu schwerfällig ist, um diese Krise zu bewältigen. Jetzt koordiniert ihr Kanzleramt die Sache, verhandelt mit den Ländern über Gesetzesänderungen und Finanzierungsfragen. Keine Kabinettssitzung ohne Bericht zur Lage, regelmäßig lässt sich Merkel erklären, wo es schleift und stockt. Die Krise ist jetzt „Chefsache“, wie man im Politikerdeutsch sagt, wenn die Kanzlerin selbst eingreift. Und davon darf man ausgehen. Im Wortsinn. Merkel gehört zu denen, die sich gern ein eigenes Bild auch dort machen, wo andere die Mitarbeiter ihrer Behörden vorschicken.

Es hat lange gedauert, bis Angela Merkel das erste Mal eine Flüchtlingsunterkunft besuchte.
Es hat lange gedauert, bis Angela Merkel das erste Mal eine Flüchtlingsunterkunft besuchte.
© Tobias Schwarz/AFP

Ende September will die Kanzlerin dann in Berlin Vertreter von Ländern und Kommunen zum Flüchtlingsgipfel treffen. Und dieses mal soll endlich ein konkreter Aktionsplan herauskommen.

Nicht nur wieder die Aneinanderreihung von Forderungen und das Gerangel zwischen Kommunen und Ländern und der Bundesregierung um Geld und Kompetenzen. Ende September ist einigermaßen spät. Die große Zahl der ankommenden Flüchtlinge war lange abzusehen. Merkel würde das selbstverständlich in dieser Klarheit nicht eingestehen. Doch seit Mitte August nutzt sie beinahe jeden öffentlichen Auftritt, um Druck zu machen, „Hochdruck“, wie sie sagt und noch mehr: „Wir können nicht so weiter arbeiten, als wären wir in einer normalen Situation“. Wer Merkel kennt, der ahnt, was hinter solchen Sätzen steckt: Die Hütte glimmt und nun alle Mann ran. Noch zeigen die Deutschen eine „beeindruckende Hilfsbereitschaft“, wie Merkel sagt.

Das Chaos ist bisher ausgeblieben, nirgendwo randalierende junge Syrer oder frierende Kinder auf den Straßen. Aber das kann sich schnell ändern, wenn es der Kanzlerin nicht gelingt, Parteien, Länder und gesellschaftliche Kräfte zusammen zu führen. Aus Angela Merkel, der Langzeitkanzlerin, die Deutschland wohlhabend gemacht und den Euro gerettet hat, könnte dann sehr schnell die Frau werden, der die Krise entglitten ist und die das Land zerstritten und zerrissen hinterlässt. Nicht nur Merkels Machtperspektive und die ihrer Partei in zwei Jahren zur Bundestagswahl, Merkels Erbe steht auf dem Spiel.

Europas Solidarität

Und da ist noch nicht einmal die Rede von Europa, dessen Zukunft ebenso betroffen ist. Merkels Europa. Das der Regeln und der Rechtssicherheit, in dem jeder seine Hausaufgaben macht und Starke für Schwache eintreten. Perdu ist diese Gemeinschaft, wenn Nachbarn in Polen oder die Briten und Esten keine Flüchtlinge aufnehmen und einige wenige Länder damit allein lassen.

Schon beim Treffen der Regierungschefs im April und dann auch wieder im Juni kam man in dieser Frage keinen einzigen Schritt weiter. Zwar konnte die Kanzlerin ihren französischen Amtskollegen Hollande am Montag zu einer „gemeinsamen Initiative“ überreden, wie beide mitteilten. Im Kern gab es die Zusage, Italienern und Griechen mit Geld bei der Bewältigung des Problems zu helfen. Aber mehr als eine erste Geste ist das nicht. Und wie es weitergehen soll, dafür hat auch Angela Merkel ganz offensichtlich keinen Plan.

Noch sind Merkels Probleme ganz praktisch. Können alle Flüchtenden unterkommen? Wird Schiffbrüchigen geholfen und Ländern, die wie Ungarn oder Italien und Griechenland besondere Lasten zu tragen haben? Da kann man kurzfristig beistehen. Doch am Ende steht nicht weniger als der Fortbestand der europäischen Idee auf dem Spiel. Und es geht um die Frage, was Angela Merkel zur Rettung derselben beigetragen hat. Das ist die „riesige Herausforderung“, von der sie spricht.

Antje Sirleschtov

Zur Startseite