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Immer auf dem Sprung, abgetaucht, weg - Angela Merkel
© picture alliance / dpa

Angela Merkel und Flüchtlingspolitik: Das Schweigen der Kanzlerin ist verhängnisvoll

Oft ist Angela Merkels Schweigen auch Ausdruck politischer Klugheit. Erst mal die anderen vorpreschen lassen. Aber in der Flüchtlingsfrage geht es um Leben und Tod – und um das richtige Wort. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Wolfgang Prosinger

Bestimmt hat auch Angela Merkel ihre Heiligtümer. Überzeugungen, an denen niemand rütteln darf, Grundwerte, für die sie einsteht. Schade nur, dass sie diese Heiligtümer so selten sichtbar macht. Was die Bundeskanzlerin wirklich denkt, hält sie gerne verborgen. Das Schweigen ist ihr höchstes Gut, sie hat es zu ihrem Politikstil gemacht, zum quasi eingetragenen Markenzeichen ihrer Machtausübung. So hält sie es auch jetzt in der Flüchtlingsfrage. Merkel schweigt.

Allenfalls sagt sie Sätze wie den: „Die Frage, wie wir mit den Flüchtlingen umgehen, wie wir mit unseren afrikanischen Nachbarn sozusagen, mit den Ländern in Afrika umgehen, die Frage, ob es uns gelingt, diplomatische Lösungen für Bürgerkriege zu finden, diese Fragen werden uns sehr, sehr viel mehr noch beschäftigen als die Frage Griechenland und die Stabilität des Euro.“ Ganz richtig dieses Statement, aber viel mehr als Schweigen ist das nicht. Denn Merkel verrät nicht, welche Position sie zu dieser Frage einnimmt, welche Pläne sie hat, welche Ziele. Auch die Bemerkung, dass die zunehmende Gewalt gegen Flüchtlingsheime „unseres Landes nicht würdig“ sei, ist nicht mehr als eine Selbstverständlichkeit. Dass eine Bundeskanzlerin kriminelle Taten verurteilt, ist ja nicht weiter erstaunlich.

Dabei ist Angela Merkels gesammeltes Schweigen nicht selten auch Ausdruck politischer Klugheit und Raffinesse. Erst mal die anderen vorpreschen lassen, nicht zu allem und jedem schon eine fertige Meinung haben, Spielräume für andere Ansichten öffnen, warten können – das kommt bei vielen gut an und wird oft als Ausdruck kühler Besonnenheit wahrgenommen. Und dass sie offenbar eher pragmatische als visionäre Ziele hat, scheint kaum jemanden zu stören. Visionslose Politiker werden hierzulande geschätzt, die fortdauernde Beliebtheit des Altkanzlers Helmut Schmidt ist ein Beleg dafür.

Es ist eine humanitäre, gesellschaftliche, geopolitische, wirtschaftliche Herausforderung

In der Flüchtlingsfrage aber ist Merkels Schweigen verhängnisvoll. Denn es handelt sich dabei ja nicht um ein vorübergehendes Problem, sondern um das drängendste dieser Zeit, das die Welt noch lange in Atem halten wird. Eine humanitäre, gesellschaftliche, geopolitische, wirtschaftliche Herausforderung. Die Dimension ist gewaltig. Wann, wenn nicht jetzt ist die Kanzlerin gefordert?

Ein klares Wort von Merkel würde die Nöte zwar nicht wenden, aber es hätte die Kraft des Symbols, könnte Hoffnung geben für die Hunderttausenden der Verzweifelten. Der alte Spruch aus Adenauers Zeiten, jetzt könnte er seine Wahrheit finden: Auf die Kanzlerin kommt es an. Die Kanzlerin muss stehen! Angela Merkel ist die mächtigste Frau der Welt, ihr Wort hat Gewicht. Überall auf der Erde, in Europa, in Deutschland. Ihr Wort fehlt.

Manche sagen, diese Zurückhaltung sei äußerst geschickt. Auf diese Weise binde Merkel den rechten gesellschaftlichen Rand ein und verhindere so dessen Radikalisierung. Bleibe damit auch wählbar für jene, denen das Flüchtlingsland Deutschland ein Ärgernis ist. Ein machttaktisches Argument also. Sollte Merkels Verweigerung damit zu tun haben, wäre das eine politische Katastrophe.

Natürlich ist die Machterhaltung für jeden Politiker ein gewichtiges Thema. Aber es darf dann keine dominante Rolle spielen, darf sich nicht in den Vordergrund drängen, wenn es um Leben und Tod geht. Genau hier liegt seine Grenze.

Macht ist in demokratisch verfassten Staaten niemals Selbstzweck

Dass Merkel ihre Überzeugungen austauschen und zugunsten der Macht über Bord werfen kann, ist bei ihr bekanntlich nicht völlig ausgeschlossen. Als sie mit einem neoliberalen Kurs 2005 die Bundestagswahl beinahe verlor, wendete sie sich schnell und verfolgt seitdem eine weitgehend sozialdemokratische Politik, Grundsätze hin oder her. Die Macht geht vor.

Aber Macht ist in demokratisch verfassten Staaten niemals Selbstzweck, Macht bedeutet Verantwortung. Die müsste Merkel jetzt übernehmen. In Deutschland sowieso, aber auch in Europa. Wem es gelingt, die anderen europäischen Staaten auf Linie zu zwingen wie im Fall Griechenland, der könnte seinen Einfluss auch in der Flüchtlingspolitik geltend machen.

Vielleicht ist der heutige Montag ja schon ein erster Termin für einen solchen Schritt. Da kommt der französische Präsident François Hollande zu einem Treffen mit Merkel nach Berlin. Gesprächsthema: Flüchtlinge.

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