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Demo für Klimaschutz vor dem Kanzleramt am Tag des Kabinettsbeschlusses.
© dpa

Kabinett beschließt neues Klimaschutzgesetz: Die Koalition ignoriert die Verfassungsrichter

Die Regierung reagiert überhastet auf das Klimaurteil. Sie verweigert, was verlangt wurde, und ändert, was die Richter abgesegnet hatten. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Zwei Wochen nach der Karlsruher Entscheidung über die teilweise Verfassungswidrigkeit des Klimaschutzgesetzes von 2019 hat das Bundeskabinett eine Nachbesserung beschlossen. Der Inhalt ist erstaunlich: Die Präzisierung der Maßnahmen für die Zeit nach 2030, die die Verfassungsrichter gefordert haben, bleibt dünn. Die Regierung beschließt aber Verschärfungen in Bereichen, die das Gericht nicht beanstandet hat.

Der Kern des Urteils aus Karlsruhe: Regierung und dem Parlament müssen bis Ende 2022 die Reduktionsmaßnahmen für die Zeit nach 2030 ausbuchstabieren. Bisher war vorgesehen, dass dies auf dem Weg einer Verordnung 2025 geschehen solle. Das befanden die Richter als einen zu späten Zeitpunkt.

Doch was beschließt das Kabinett? Es gibt ein neues Reduktionsziel für die Zeit bis 2030 vor – nun 65 statt bisher 55 Prozent – und weitere Verschärfungen für die folgenden Jahre. Klimaneutralität soll nun 2045 statt 2050 erreicht werden. Sie verordnet pauschale Sektorziele, die konkreten Schritte jedoch, wie das geschehen soll, fehlen.

Fragwürdige Interpretation von Siegern und Verlierern

Die Lücken sind erklärbar. Um solch ein Konzept auszuarbeiten und in ein neues Gesetz zu gießen, bräuchten Regierung und Parlament Zeit. Karlsruhe hat sie ihnen gegeben: bis Ende 2022. Doch die Koalition bevorzugt einen überhasteten Entwurf. Das Kabinett ignoriert das Urteil also weitgehend. Es verweigert, was ihm aufgetragen wurde: die Präzisierung nach 2030. Es tut, was nicht gefordert war: eine pauschale Verschärfung vor 2030. Und das sofort, statt die Zeit bis Ende 2022 zu nutzen..

Warum geht Politik so kopflos vor?

Neues Ziel der Regierung: Klimaneutralität 2045 statt 2050.
Neues Ziel der Regierung: Klimaneutralität 2045 statt 2050.
© dpa

SPD und Union reagieren wegen der nahen Bundestagswahl panisch, als hänge der Ausgang vom Klimaschutz ab. Sie stehen unter dem Druck einer öffentlichen Interpretation des Karlsruher Urteils, die dessen Inhalt weitgehend auf den Kopf stellt. Die öffentliche Interpretation tut so, als hätten die Kläger im Großen und Ganzen gesiegt – und seien Regierung und Parlament, die das Klimaschutzgesetz von 2019 zu verantworten haben, unterlegen.

Die Verfassungsbeschwerden wurden zum Großteil abgewiesen

Wer das in 270 Absätze gegliederte Urteil studiert,  dürfte eher zu dem umgekehrten Eindruck kommen. Die Beschwerden werden zum Großteil zurückgewiesen.

Beim Vergleich von dem, was das Gericht entschieden hatte, und dem, was das Kabinett jetzt daraus macht, fällt markant auf: Die Klimaschutzmaßnahmen bis 2030 sind laut Urteil nicht verfassungswidrig. Das hatten die Kläger behauptet, sind damit aber unterlegen.

[Mehr zum Thema: [Generation kompromisslos :Diese junge Klimaaktivistin könnte bald auch an Ihrer Haustür klingeln (T+)]

Das Gericht hat geprüft, ob Regierung und Parlament tatenlos seien oder ungeeignete Maßnahmen ergriffen. Regierung und Bundestag haben in der Verhandlung die getroffenen Regelungen bis 2030 verteidigt. Die Richter gaben ihnen Recht. Warum soll jetzt das geändert werden, was als verfassungskonform bewertet wurde?

Karlsruhe: Klimaschutz hat keinen Vorrang

Das Gericht hob hervor, die Kläger seien mit ihren 13 Beschwerden nur „teilweise erfolgreich“ – darunter fand sich aber ein bemerkenswerter Punkt. Die Richter stellten nämlich fest, dass „hinreichende Maßgaben für die weitere Emissionsreduktion ab dem Jahr 2031 fehlen“. Dieser Punkt hat sehr viel Aufmerksamkeit gefunden – aus gutem Grund, denn er ist zukunftsweisend. Karlsruhe stellte fest, dass die Generationengerechtigkeit berücksichtigt werden müsse.

Wenig Beachtung fand der Hinweis der Richter, dass auch dieser Grundsatz mit anderen Verfassungsvorgaben abgewogen werden müsse. Er gelte nicht absolut.

In den Leitsätzen halten die Richter das ausdrücklich fest: Klimaschutz „genießt keinen unbedingten Vorrang gegenüber anderen Belangen, sondern ist im Konfliktfall in einen Ausgleich mit anderen Verfassungsrechtsgütern und Verfassungsprinzipien zu bringen“.

Es ist deshalb wichtig, den Punkt, in dem die Kläger erfolgreich waren, mit der Vielzahl von Punkten abzugleichen, wo ihre Beschwerden zurückgewiesen wurden. Regierung und Parlament werden dem Urteil nur gerecht, wenn sie beides zusammennehmen.

Zukunftsweisend ist die Generationengerechtigkeit

Das Neue, Zukunftsweisende: Die Auflagen, die sich aus den Reduktionszielen ergeben und zur Einschränkung von Freiheitsrechten führen können, dürfen nicht unverhältnismäßig auf die Generationen verteilt werden, also nicht zu einem radikal höheren Risiko der Freiheitseinschränkung für Menschen nach 2030 führen, während die heute Lebenden geschont werden.

Daher der Auftrag an Regierung und Parlament: Buchstabiert aus, wie ihr die Reduktionslasten nach 2030 aufteilt, sowohl auf der Zeitschiene als auch nach konkreten Maßnahmen in einzelnen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft. Was bedeutet das für Wohnen, Verkehr, Energiewirtschaft, Arbeitsplätze?

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Viele, die von einem Sieg der Kläger sprechen, argumentieren nun: Bei der Präzisierung der Maßgaben nach 2030 werde sich herausstellen, dass sie so stark in Freiheitsrechte eingreifen, dass sie unverhältnismäßig groß sind im Vergleich zu den Klimaauflagen bis 2030. In dem Fall wäre die Konsequenz, dass auch die Maßgaben für die Zeit bis 2030 zu verschärfen sind.

Können die Kläger politisch durchzusetzen, woran sie juristisch scheiterten?

Das kann so kommen, muss es aber nicht. Das Urteil fordert diese Doppelüberprüfung – was folgt aus den Maßgaben nach 2030 für die Politik vor 2030 – übrigens nicht einmal. Für den Moment gilt die Einordnung der Verfassungsrichter, dass die Maßgaben bis 2030 verfassungskonform sind.

Wer jetzt schon die Verschärfung für die Zeit vor 2030 fordert - oder sie gar beschließt wie das Kabinett -, obwohl noch gar nicht im Detail geprüft wurde, welche Maßnahmen nach 2030 für die Einhaltung der Klimaziele nötig sind und wie sich die mutmaßliche Schärfe der Eingriffe zu den Auflagen bis 2030 verhält, tut den zweiten Schritt vor dem ersten.

Darin liegt eine gewisse Ironie. Die Kläger sind mit ihrer Forderung, die gesetzlichen Vorgaben für die Zeit bis 2030 zu verschärfen, vor Gericht gescheitert. Nun benutzen sie den öffentlichen Druck, der sich nach dem Urteil aufgebaut hat, um die Verschärfungen vor 2030, die juristisch abgelehnt wurden, politisch durchzusetzen. Und die Bundesregierung beugt sich diesem Druck, obwohl die Richter ihr bescheinigt haben, dass die Vorgaben bis 2030 nicht zu beanstanden sind.

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