Angela Merkel nach dem EU-Türkei-Gipfel: Die Kanzlerin übt sich im Spagat
Moralisch ist sie immer noch bei Margot Käßmann, aber faktisch schon längst bei Horst Seehofer. Es wird Zeit, dass Angela Merkel ihre Wandlungen in der Flüchtlingspolitik erklärt. Ein Kommentar.
Sie ist eine Meisterin der Diplomatie, eine Magierin der Politik. Sie kann Bälle verwürfeln und Kreise quadratisch machen. Das Publikum dankt es ihr mit hohen Zustimmungswerten. Drei Ziele verfolgte Angela Merkel beim jüngsten EU-Gipfel zur Flüchtlingskrise. Erstens sollen die deutschen Grenzen offen, das Grundrecht auf Asyl bestehen und Obergrenzen ausgeschlossen bleiben. Zweitens soll die Zahl der ankommenden Flüchtlinge drastisch reduziert werden. Drittens soll sich die Spaltung Europas nicht vertiefen. Alle drei Ziele hat die Kanzlerin erreicht. Ihre Geduld und Beharrlichkeit führten zum Erfolg. Doch der Preis dafür ist hoch. Er besteht aus Widersprüchen, Zynismen, Täuschungen und Inhumanitäten.
Durch die Schließung der Balkanroute und den EU-Pakt mit der Türkei kommen bald keine Flüchtlinge mehr nach Deutschland. Woher denn auch? Das Prinzip der Offenheit bleibt also vor allem deshalb erhalten, weil es keine Konsequenzen mehr hat. Gut zu sein, kostet nichts mehr. Rhetorisch ist Deutschland immer noch Margot Käßmann, aber faktisch längst Horst Seehofer. Das obergrenzenfreie Grundrecht auf Asyl wird zelebriert, weil es kein Schutzsuchender mehr in Anspruch nehmen kann.
Grenzen, Zäune und Mauern lösen das Problem nicht, hieß es einst. Jetzt wird eine Armada aus Nato, Frontex und Polizisten an die türkisch-griechische Grenze geschickt, um sie strengstens zu überwachen. Europa schottet sich ab, damit bald alle 28 Mitgliedsländer vom globalen Flüchtlingsproblem unberührt sind. Eine europäische Lösung, die diesen Namen verdient, ist perdu. Weder geht’s um faire Quoten noch um feste Kontingente. Freiwillig sollen Flüchtlinge aufgenommen werden, was aller Erfahrung nach nicht funktioniert, weil jedes Land mit dem Zeigefinger aufs andere deuten wird.
Ein Tauschhandel mit Flüchtlingen: Das nennt man Abschreckung
Selbst jene 72.000 Syrer, die im Rahmen eines Tauschhandels künftig legal in die EU einreisen dürfen, sind keine zusätzlich beschlossene Größe, sondern die Summe aus bereits zuvor von der EU beschlossenen Maßnahmen. Der Tauschhandel wiederum sieht vor, dass Schutzsuchende, die künftig die griechischen Inseln erreichen, wieder zurück in die Türkei geschickt werden, während im Gegenzug ein anderer Flüchtling Aufnahme in der EU findet. Dadurch soll sich die Zahl der Flüchtenden verringern und den Schleppern das Handwerk gelegt werden. Das nennt man Abschreckung.
Man stelle sich vor, Bundesrepublik und DDR hätten zu Mauerzeiten ein ähnliches Rückführungsabkommen unterzeichnet. Die Vorteile wären offenkundig gewesen – weniger Mauertote, mehr arbeitslose Schleuser (die man damals „Fluchthelfer“ nannte, obwohl sich viele ihre Dienste bezahlen ließen). Dennoch wäre ein Aufschrei der Empörung durchs Land gegangen. Wenn es um Menschen in Not geht, heilt eben nicht jeder Zweck die Mittel.
Künftig muss ein syrischer Bürgerkriegsflüchtling in der Türkei darauf hoffen, dass sich jemand anderes auf dem Weg nach Griechenland in Gefahr begibt, dann zurückgeschickt wird, damit er selbst einreisen kann. Wie verrückt ist das?! Ob sich eine solche Regelung mit der Genfer Konvention vereinbaren lässt, ist zweifelhaft.
Europa legt sein Schicksal in Erdogans Hand
Das Schlüsselland wiederum für das Funktionieren dieses Plans ist die Türkei. Europa legt sein Schicksal in Erdogans Hand. Der aber tritt Menschenrechte und die Pressefreiheit mit Füßen, bombardiert die Kurden und hat lange Zeit IS-Kämpfer aus Europa über sein Land nach Syrien weiterreisen lassen. Schon einmal redete sich ein Bundeskanzler den Herrscher eines Imperiums schön, weil er glaubte, von diesem abhängig zu sein. Was Wladimir Putin für Gerhard Schröder in der Energiepolitik (lupenreiner Demokrat) war, könnte demnächst Erdogan für Merkel in der Flüchtlingspolitik (alternativlos) sein.
Vielleicht war der Pakt mit der Türkei notwendig, weil er das kleinste von allen Übeln war. Vielleicht auch musste dem Eindruck entgegengewirkt werden, dass Merkel innerhalb der EU isoliert ist. Doch das entbindet die Kanzlerin nicht von der Pflicht, ihre Wandlungen in der Flüchtlingspolitik zu erklären. Sie hat bittere Lernprozesse durchgestanden, muss jetzt den Spagat aushalten zwischen humanem Anspruch und inhumaner Praxis (von den Flüchtlingen in Idomeni spricht ja schon keiner mehr). Wenn sie trotzdem weiter den Eindruck zu erwecken versucht, immer alles richtig gemacht zu haben, wirkt das provokativ.
Zu glauben, eine historische Herausforderung durch öffentliches Beharren auf Fehlerfreiheit zu bestehen, ist anmaßend. Klüger und – um es mit einem von Merkels Lieblingsworten zu sagen – zielführender ist es, das Volk an gewonnenen Einsichten teilhaben zu lassen. Gute Politik braucht persönlich-philosophische Unterfütterung. Das gilt besonders in Krisenzeiten. Die Deutschen sind gegenüber ihrer Kanzlerin toleranter, als sie selbst annimmt.