Presseschau zum Flüchtlingsabkommen: "Angela Merkel verkörpert das Gesicht eines Europas, das sich schämen muss"
Das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei hat nicht nur in der Opposition und bei Hilfsorganisationen Kritik hervorgerufen. Auch die internationale Presse sieht die Einigung überwiegend skeptisch.
Nach zähen Verhandlungen haben sich die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten und der Türkei am Freitag auf ein Flüchtlingsabkommen geeinigt. Dieses sieht vor, dass die Türkei alle auf den griechischen Inseln ankommenden Bootsflüchtlinge zurücknimmt. Diese Regelung soll für alle Flüchtlinge bis auf wenige Ausnahmen gelten – beispielsweise Kurden aus Syrien. Für jeden zurückgebrachten Schutzsuchenden aus Syrien soll ein anderer syrischer Flüchtling aus der Türkei direkt in die EU ausgeflogen werden.
Die Einigung ist nicht nur in der Politik höchstumstritten. Flüchtlingsorganisationen wie Pro Asyl bezeichnete sie als "Schande für Europa" und bezichtigt die EU, die Menschenrechte von Flüchtlingen an die Türkei zu verkaufen. Die Stimmung im Flüchtlingscamp in Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze ist angespannt. Auch in den deutschen und internationalen Medien wird das Flüchtlingsabkommen kritisch kommentiert.
Die "Saarbrücker Zeitung" kommentiert vor allem die Rolle von Kanzlerin Angela Merkel kritisch:
"Ausgerechnet Angela Merkel hat auf diesen Pakt gesetzt. Obwohl sie die Türkei stets auf Distanz halten wollte und anstelle einer Vollmitgliedschaft lediglich eine privilegierte Partnerschaft anstrebte. Es ist nicht Merkels einziger Kurswechsel. Auch die Renaissance des von ihr für tot erklärten Dublin-II-Abkommens gehört zum Kern des neuen Deals (...) Das bedeutet am Ende aber vor allem einen fulminanten Salto rückwärts der Kanzlerin. Im vorigen Herbst hatte sie noch zum Durchwinken eingeladen. Jetzt wirkte sie an der Sicherung des Bollwerks Europa mit."
Die französische Regionalzeitung „Sud Ouest“ bezeichnet Merkel gar als Verkörperung eines Gesichts Europas, das sich schämen müsse:
„Es gibt Abkommen, die man besser nicht unterschrieben hätte. Dazu gehört das zwischen den Europäern und den Türken. Denn der Entschluss, Tausende von Personen zurückzuschicken, von denen die meisten schutzbedürftig sind, ist nicht glorreich. Vor allem, wenn dadurch die Willkommensgeste vom Herbst 2015 und eine bestimmte Konzeption des Asylrechts sanktioniert wird. Angela Merkel verkörpert dieses Gesicht eines Europas, das sich schämen muss. Nachdem die deutsche Kanzlerin den Weg der Großzügigkeit eingeschlagen hat, hat sie nun das Zeichen zum Rückzug gegeben. Man kann ihr nicht vorwerfen, dass sie Initiativen ergreift, dass sie es aber hinter dem Rücken ihrer Partner macht, sagt viel über den schlechten Zustand der Europäischen Union aus.“
Die „Neue Zürcher Zeitung“ sieht den Deal mit der Türkei als Konsequenz der langen Untätigkeit Europas:
„Die Europäer stehen nach dem Deal in der Bringschuld. Sie haben sich freiwillig in eine sehr enge Abhängigkeit von der Türkei begeben - auch, um die eigene Untätigkeit zu entschuldigen. Damit muss nun Schluss sein, denn das Abkommen kann nur ein erster Schritt sein, um die unkontrollierbare und inakzeptable Flüchtlingsmisere geregelt und menschlicher zu handhaben. Dafür reichen Zäune auf dem Balkan und Abschreckungsdispositive in der Ägäis aber nicht aus. Es braucht die Bereitschaft, die moralische Verpflichtung Europas zur Aufnahme von Verfolgten aus dem Nahen Osten auch ernst zu nehmen.“
„Der Standard“ aus Wien bezeichnet das Verhalten der EU-Spitzen in den Verhandlungen mit der Türkei als peinlich und spricht von einem "hohen Preis", den die EU zahlen müsse:
„Die Grundlinie stimmt: Illegale Migration soll beendet und durch legale Zuwanderung und Aufnahme von (vor allem syrischen) Flüchtlingen ersetzt werden. Damit endet das Positive an dem Deal. Denn für das Erreichen des Ziels, dass möglichst keine Flüchtlinge mehr den Weg über das Meer nach Griechenland finden, zahlt die Union einen hohen Preis. Den hohen moralischen Ton, den einzelne EU-Staaten in der Regel anstimmen, um die Grund- und Menschenrechtsverletzungen in der Welt anzuprangern, sollten sie sich in nächster Zeit verbeißen. Es war geradezu peinlich, wie stumm sich die EU-Spitzen gegenüber den neuen besten Freunden in Ankara verhielten, was den üblen Umgang mit Pressefreiheit, mit Opposition und Demokratie betrifft. In der neuen Realpolitik passt das nicht mehr ins Konzept. Für die EU ist es wichtiger, dass die türkische Regierung das vereinbarte Ziel tatkräftig umsetzt: den Zustrom an Flüchtlingen nach Griechenland möglichst auf null zu bringen.“
In der niederländischen Zeitung „de Volkskrant“ liegt der Fokus auf der lange vernachlässigten Beziehung mit der Türkei, in der die Rollen nun getauscht würden:
„Die EU bezahlt jetzt den Preis für die vernachlässigte Pflege der Beziehungen zur Türkei. Jahrelang wurde Ankara bei den Verhandlungen über die 1999 versprochene EU-Mitgliedschaft hingehalten. Die Türkei wollte wohl, aber Europa musste nicht. Nun wurden die Rollen getauscht und für Ankara wurde in den Verhandlungen ein neues politisches Kapitel aufgeschlagen. Und das zu einem Zeitpunkt, da die Pressefreiheit in der Türkei öffentlich in Ketten gelegt wird. Die EU büßt auch für ihre eigene Nachlässigkeit. Für die mangelnde Bewachung ihrer Außengrenzen zum Beispiel, wodurch illegale Migranten mühelos von Griechenland in die Niederlande, nach Deutschland und Schweden weiterreisen konnten. Außerdem bezahlt sie den Preis für die Zerstrittenheit der Mitgliedstaaten.“
Die linksliberale slowakische Tageszeitung „Pravda“ warnt vor der Aufhebung der Visapflicht für türkische Staatsbürger in Europa:
„Wenn wir uns vor einer der EU-Zusagen an die Türkei wirklich fürchten sollten, dann ist es die Aufhebung der Visapflicht. Die Vorstellung, dass gemeinsam mit den 80 Millionen Einwohnern der Türkei auch verschiedene muslimische Radikale und Terroristen die volle Reisefreiheit in Europa bekämen, ist wohl nicht nur für Sicherheitsexperten ein Alptraum. Deshalb ist diese bittere Pille auch diplomatisch eingepackt in 72 Kriterien, deren Erfüllung die EU-Kommission im April beurteilen soll.“
Die konservative ungarische Tageszeitung „Magyar Nemzet“ bezeichnet die Registrierung und Prüfung der Flüchtlinge in Griechenland als "gnadenlose Aufgabe" und "Menschenmarkt":
„In Anbetracht dessen, dass ein Tag 1440 Minuten hat, heißt dies, dass in den fünf Hotspots (in Griechenland) grob zweieinhalb Minuten zur Verfügung stehen, um eine der täglich 3000 dort ankommenden Menschen zu 'bearbeiten', also um zweifelsfrei festzustellen, ob der Betreffende Recht auf Asyl hat oder an die Türkei übergeben werden kann. (...) Das ist eine gnadenlose Aufgabe. Kurz: Griechenland ist dafür nicht vorbereitet. (...) Und seien wir ehrlich: Kann man überhaupt als Europäer, als Gemeinschaft moderner, aufgeklärter Menschen, für einen solchen Menschenmarkt vorbereitet sein?“
"Gegenüber der heutigen Situation bedeutet die Einigung sicher eine Verbesserung“
Die Einigung wird allerdings nicht nur kritisch gesehen. Einige Zeitungen bewerten die Einigung trotz zahlreicher Mängel als einen Schritt in die richtige Richtung.
Die "Hannoversche Allgemeine Zeitung" spricht von der Rückkehr des "Europagedankens" und einer Schwächung der Schlepper:
"Der Europagedanke ist nach Europa zurückgekehrt. Der angestrebte Deal mit der Türkei könnte, bei aller Kritik an Details, den Schleppern die Geschäfte verderben: Mit Booten von der Türkei aus nach Griechenland zu schippern, macht keinen Sinn mehr, wenn die Türkei jeden Flüchtling wieder zurücknimmt. Die Liste der offenen Fragen, die jetzt bleiben, ist lang. Zugleich aber bieten sich neue Perspektiven. Die EU wird offener für die Türken. Zugleich aber, das sehen bislang nur wenige, wächst die Chance, die Türkei europäischer zu machen. Staunend blicken jetzt die Deutschen auf eine Kanzlerin, deren Einfluss in der EU doch deutlich weiter reicht, als viele dies in letzter Zeit beschrieben haben."
Der Mailänder „Corriere della Sera“ verweist auf die Schwere der Aufgabe in der Flüchtlingsfrage:
„Es ist eine noch immer kleine Einigung, die aber in die richtige Richtung geht. Die EU steht vor drei verschiedenen Problemen: Das der Flüchtlinge, das der Migranten und das derjenigen, die nach Europa kommen, aber nicht um zu bleiben. Die Antwort kann nichts anderes sein als Gemeinschaft, um erfolgreich zu sein. Die EU hat sich nun darauf geeinigt, syrische Flüchtlinge aufzunehmen, aber gleichzeitig mit Hilfe der Türkei die Migration über den Balkan zu kontrollieren. Sicherlich wird der EU wieder vorgeworfen werden, egoistisch zu sein oder unfähig, widersprüchlich und nicht fähig, die Migrationsfrage anzugehen. Aber die Zweckmäßigkeit der Institutionen und ihrer Politik wird an den Problemen gemessen, die sie lösen muss. Und das Problem ist in diesem Fall fast so schwierig wie ein Krieg.“
Die liberale slowakische Tageszeitung „Dennik N“ sieht die Einigung als Schritt auf dem Weg zu weniger toten Flüchtlingen im Mittelmeer und mehr Übersichtlichkeit bei der Migration:
„Wenn vor allem solche Flüchtlinge in die EU kommen sollen, die das nicht mithilfe von Schleppern versuchten, wird das wohl den Druck auf Griechenland und andere Transitländer verringern. Und es wird weniger Tote im Meer geben, dafür mehr Übersichtlichkeit und Vorhersehbarkeit im Zustrom von Flüchtlingen. Wer grundsätzlich alle Flüchtlinge und Migranten ablehnt, wird natürlich nicht mit dieser Lösung zufrieden sein. Aber gegenüber der heutigen Situation bedeutet sie sicher eine Verbesserung.“
Die bulgarische Zeitung „24 Tschassa“ bezeichnet die gemeinsame europäische Linie unabhängig vom Funktionieren des Abkommens mit der Türkei als gute Nachricht:
„Zu lange Zeit erschien die Europäische Union überrascht, verwirrt und hilflos, um gemeinsame Entscheidungen zu den Flüchtlingen zu treffen. Es ging soweit, dass sich einzelne Staaten separat „retteten“ und Grenzkontrollen wieder einführten. Andere Staaten begannen, gemeinsame Lösungen nach dem Regionalprinzip zu suchen. Wegen der Flüchtlingspolitik zeichnete sich ein neuer Riss in der EU ab - dieses Mal entlang der West-Ost-Achse. Nicht nur (das) Schengen(-Abkommen), sondern die Zukunft der Europäischen Union wurde allmählich recht unklar. Vor diesem Hintergrund gilt es als gute Nachricht, dass die Führer endlich eine gemeinsame Haltung erreichten. Ob das Abkommen mit der Türkei gut ist und funktionieren wird, wird sich bald herausstellen. Der Teufel steckt im Detail.“ (mit dpa)