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Es war dieses Bild, das Emine Cansever als „Tante mit der Steinschleuder“ bekannt machte.
© AFP

Unruhen in der Türkei: Die Heldinnen des Widerstands

Zwei Frauen in der Türkei wurden durch die Gezi-Unruhen und den Korruptionsskandal zu Symbolfiguren des Protests gegen Ministerpräsident Erdogan kurz vor den Kommunalwahlen im März. Sie wollen ihren "Kampf gegen die Ungerechtigkeit" trotz der Repressalien von Polizei und Justiz fortsetzen.

Die Gezi-Unruhen und der jüngste Korruptionsskandal haben den Gegnern von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan in der Türkei ungewöhnliche Heldinnen beschert. Eine von ihnen ist die 53-jährige Emine Cansever, die als „Tante mit der Steinschleuder“ bekannt wurde, weil sie während der Gezi-Unruhen an den Straßenschlachten gegen die Polizei teilnahm. Nach mehreren Monaten Untersuchungshaft kam Cansever jetzt frei – und kündigte an, bei neuen Protesten werde sie wieder mit dabei sein. Bei der Rückkehr aus der U-Haft wurde Cansever von ihren Nachbarn mit einer Freudenfeier begrüßt. Ihren „Kampf gegen die Ungerechtigkeit“ werde sie fortsetzen, sagte sie der Zeitung „Hürriyet“.

Wie Cansever ist auch Nuran Gül aus dem westtürkischen Akhisar zu einer Symbolfigur des Widerstandes gegen die Regierung geworden. Die 50-jährige schwenkte während einer Rede Erdogans in ihrer Stadt auf dem Balkon ihrer Wohnung einen Schuhkarton – und spielte damit auf die mutmaßliche Korruption bei den Anhängern Erdogans an. Bei Ermittlungen der Istanbuler Staatsanwaltschaft wegen mutmaßlicher Schmiergeldzahlungen eines iranischen Geschäftsmannes an Personen aus dem Umfeld der Regierung waren Mitte Dezember in Schuhkartons im Haus des Direktors einer staatlichen Bank mehrere Millionen Euro gefunden worden. Gül wurde wenige Minuten nach ihrer friedlichen Protestaktion vorübergehend festgenommen. Sie selbst kam nach zwei Stunden wieder frei, ihr Schuhkarton erst nach vier Stunden, wie die türkische Presse berichtete.

Die Festnahme hat die Frührentnerin Gül landesweit bekannt gemacht. Gül sagt, ihre Protestaktion sei spontan gewesen, auch gehöre sie keiner politischen Partei an. Aus Sicht der Erdogan-Gegner zeigt Güls Erlebnis mit der Polizei die wachsende Willkür der Behörden im Umgang mit Regierungskritikern. Oppositionschef Kemal Kilicdaroglu rief Gül an, um ihr seine Unterstützung zuzusagen. Die türkische Anwaltskammer reichte Strafanzeige gegen die verantwortlichen Polizeibeamten in Akhisar ein, die Güls Wohnung ohne Durchsuchungsbefehl betraten. Die Festnahme habe zudem die Grundrechte auf Meinungsfreiheit und auf Teilnahme an friedlichen Protestaktionen verletzt.

Beide Frauen stehen für einen wachsenden Unmut in der Bevölkerung kurz vor den Kommunalwahlen im März. Im Verlauf des Jahres 2013 habe Erdogan es geschafft, sich mit vielen Gruppen anzulegen, die ihn in der Vergangenheit unterstützt hätten, kommentierte die Zeitung „Radikal“. Das Spektrum jener, die sich von Erdogan vor den Kopf gestoßen fühlten, reiche von liberalen Journalisten bis zur Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, deren Anhänger hinter den derzeitigen Korruptionsvorwürfen vermutet werden. Und immer neue Einzelheiten über die angebliche Bestechlichkeit von Erdogan-Ministern kommen ans Tageslicht. Der inzwischen zurückgetretene Wirtschaftsminister Zafer Caglayan flog nach Zeitungsberichten mit seiner Familie im Jet eines iranischen Geschäftsmannes zur Pilgerreise nach Mekka. Der Geschäftsmann, Reza Zarrab, steht im Zentrum des Skandals: Er soll mit Schmiergeldern die Hilfe Ankaras für einen schwunghaften Gold-Handel mit dem Iran erkauft haben. Pressemeldungen zufolge ließ sich Caglayan von Zarrab unter anderem eine Schweizer Edel-Armbanduhr im Wert von 240000 Euro schenken.

Noch ist offen, welche Folgen diese Enthüllungen für Erdogan an den Wahlurnen haben werden. Nach Einschätzung eines regierungsnahen Demoskopen könnte es für Erdogan eng werden, wenn seine Partei AKP bei den Kommunalwahlen am 30. März unter 40 Prozent rutscht. Bei den Kommunalwahlen vor fünf Jahren erreichte die AKP etwa 38 Prozent, bei den Wahlen im Jahr 2004 waren es rund 42 Prozent. Diese Ergebnisse bilden nach den Worten von Ibrahim Uslu, Chef des Erdogan-nahen Umfrageinstituts ANAR, die Messlatte für die bevorstehende Kommunalwahl am 30. März; bei der Parlamentswahl 2011 hatte die AKP sogar 50 Prozent erreicht, doch dürfte das für die Erdogan-Partei im März unmöglich sein.

In einem Interview mit „Radikal“ gab Uslu einen Einblick in die wahlstrategischen Überlegungen im Regierungslager. Bei einem Ergebnis von 40 Prozent plus X bei den Kommunalwahlen würde sich Erdogan demnach bestätigt sehen. In diesem Fall dürfte Erdogan seine geplante Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl im Sommer energisch vorantreiben. „Bei einem Stimmenanteil von unter 40 Prozent wird die Lage neu bewertet“, sagte Uslu. Mit anderen Worten: Dann wären Erdogans präsidiale Ambitionen in ernster Gefahr.

Susanne Güsten

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