Korruptionsaffäre: Die Krise in der Türkei hat gerade erst begonnen
Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan beginnt in der Korruptionsaffäre die Nerven zu verlieren. Sollten sich die aktuellen Vorwürfe bewahrheiten, könnte es das Ende seiner Karriere bedeuten. Mit Folgen über die Grenzen des Landes hinaus.
Schuhkartons voller Dollar-Millionen in der Wohnung des Chefs einer Staatsbank, dicke Banknotenbündel und eine Geldzählmaschine im Haus eines Ministersohns: Die Indizien sprechen eine deutliche Sprache. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan wittert dennoch ein „Komplott dunkler ausländischer Kräfte“. Das klingt genauso unglaubwürdig wie während der Massenproteste vom vergangenen Sommer, hinter denen die Regierung ebenfalls Drahtzieher aus dem Ausland vermutete.
Jetzt scheint die Verschwörungshysterie keine Grenzen mehr zu kennen: Regierungsnahe Zeitungen fordern den amerikanischen Botschafter auf, das Land zu verlassen, Erdogan droht Diplomaten mit Ausweisung. Zugleich versucht der Premier, mit Säuberungen im Polizeiapparat und in der Justiz die Ermittlungen abzuwürgen und weitere Enthüllungen zu verhindern. Das zeigt: Erdogan beginnt die Nerven zu verlieren. Zumal jetzt auch Angriffe aus den eigenen Reihen kommen. Umwelt- und Bauminister Bayraktar, dem Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe von Baugenehmigungen vorgeworfen werden, verzichtete zwar unter Erdogans Druck auf sein Amt, forderte aber den Premier auf, ebenfalls zurückzutreten: Alles sei auf Erdogans Anweisung geschehen. So hat bisher kein Minister den allmächtigen Premier bloßgestellt: Götterdämmerung in Ankara.
Dunkle Flecken auf Erdogans weißer Weste
Nach anfänglichem Schweigen hat sich Präsident Abdullah Gül zu der Affäre geäußert und versprochen, dass nichts vertuscht werde. Er mahnte, die Justiz ungehindert ihre Arbeit machen zu lassen. Gül wird eine Nähe zu Fetullah Gülen nachgesagt, jenem islamischen Kleriker, den Erdogan als treibende Kraft hinter den Korruptionsermittlungen vermutet. Gülen steuert aus seinem selbst gewählten Exil in den USA ein globales Netzwerk von Bildungseinrichtungen, Wohltätigkeitsorganisationen und Medienunternehmen. In der Türkei hat der Reformprediger Millionen Anhänger, viele von ihnen sitzen an Schaltstellen des Polizeiapparats und der Justiz. Gülen mag seine eigene Agenda verfolgen, aber das macht die Korruptionsvorwürfe gegen die Regierung nicht weniger brisant.
Sie treffen Erdogans Partei ins Mark. Deren Initialen „AK“ stehen nicht nur für Adalet (Gerechtigkeit) und Kalkinma (Entwicklung). Ak bedeutet auch weiß, rein. Mit dem Versprechen, Bestechung und Vetternwirtschaft auszumerzen, konnte die erst ein Jahr zuvor gegründete AKP 2002 einen überwältigenden Sieg einfahren. Die weiße Weste, mit der sich Erdogan gern brüstet, hatte schon in früheren Jahren immer mal wieder dunkle Flecken bekommen. Aber die Vorwürfe, um die es jetzt geht, stellen alles in den Schatten. Bewahrheiten sie sich, könnte das der Anfang vom Ende der AKP und ihres Stars Erdogan sein.
Prüfstein für die zukünftigen Beziehungen
Schon vor dieser Affäre konnte niemand ernsthaft behaupten, die Türkei sei reif für einen EU-Beitritt. Es hapert nicht nur an den rechtsstaatlichen Strukturen. Wenn jetzt Vizepremier Bülent Arinc kritisiert, dass der für die Polizei zuständige Innenminister „als Letzter“ von der Festnahme seines Sohnes erfahren habe, zeigt das: Manche in Ankara haben den Gedanken der Gewaltenteilung, ein Grundprinzip der Demokratie, noch nicht verstanden. Die EU äußerte bereits Besorgnis und ermahnte die türkische Regierung, die Unabhängigkeit der Justiz zu wahren. Europa muss jetzt sehr genau beobachten, wie Erdogan mit den Vorwürfen umgeht. Die Korruptionsaffäre wird zum Prüfstein für die künftigen Beziehungen des Landes zur EU.