Drohender "Grexit": Die Griechen stürmen ihre Banken
In den dramatischen Stunden nach der Ankündigung eines Referendums über den Vorschlag der Geldgeber leeren die Griechen Geldautomaten, Supermärkte und Zapfsäulen – oder stehen vor geschlossenen Türen.
Samstagvormittag in Athen. Eine Filiale der Alpha Bank im Stadtteil Agios Dimitrios: Ein Dutzend Menschen steht hier vor dem Geldautomaten an. „Glück gehabt“, sagt ein älterer Mann, dem der Automat gerade noch zehn 50-Euro-Scheine ausspuckte. Der nächste Kunde hat schon Pech: „Technische Störung“ meldet der Bildschirm. Wieder schiebt der junge Mann seine Karte in den Schlitz, tippt die Geheimzahl ein. Wieder nichts. Dritter Versuch – erfolglos. Unruhe macht sich unter den Wartenden breit. „Lass mich mal“, ruft ein Mittvierziger und drängt sich nach vorn. Doch auch er hat keinen Erfolg. Der Automat ist leer. „To panigiri teliose“, sagt einer der Wartenden bitter lächelnd. Die Party ist vorbei.
In den frühen Morgenstunden hatte Ministerpräsident Alexis Tsipras in einer Fernsehansprache an die Nation für den kommenden Sonntag eine Volksabstimmung angekündigt. Die Griechen sollen über Annahme oder Ablehnung jenes Kompromissvorschlages entscheiden, den die Gläubiger am Freitag der Athener Regierung unterbreiteten: Hilfsgelder von 15,5 Milliarden Euro, auszuzahlen in mehreren Raten zwischen Juli und November, sofern die Regierung einen umfangreichen Reform- und Sparkatalog umsetzt. Damit wäre das Land vorerst vor dem drohenden Staatsbankrott gerettet. Doch wahrscheinlich ist ein negatives Votum mit allerhand möglichen Konsequenzen: Staatspleite, Grexit, Chaos.
Die Entscheidung, eine Volksabstimmung zu veranstalten, fiel am Freitagabend in einer vielstündigen Sondersitzung des Athener Kabinetts. Tsipras informierte telefonisch Merkel, den französischen Präsidenten Francois Hollande und den Chef der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, über den Beschluss. Der Premier ließ in seiner Fernsehansprache keinen Zweifel daran, dass er sich am Sonntag ein Nein der Wähler erhofft: Der Vorschlag der Gläubiger lade „untragbare Bürden auf die Schultern des griechischen Volkes“. Tsipras bezeichnete das Angebot der Geldgeber als „erpresserisches Ultimatum“. Staatsminister Nikos Pappas, einer der engsten Mitarbeiter des Premiers, sagte: „Unser Volk wird mit Nein stimmen“.
Mehr als 50 Prozent der Griechen wollen den Euro
Prognosen über den Ausgang der Volksabstimmung sind schwierig. In jüngsten Umfragen sprachen sich zwar deutlich mehr als 50 Prozent der Griechen für einen Verbleib im Euro aus, auch wenn das mit weiteren Opfern verbunden sei. Andererseits unterstützt in den Umfragen auch eine klare Mehrheit die harte Verhandlungslinie der Regierung. Das politische Klima in Griechenland ist ohnehin seit dem Wahlsieg des Bündnisses der radikalen Linken (Syriza) Ende Januar stark polarisiert. Und in der kommenden Woche vor der Volksabstimmung werden sich die Gegensätze weiter verschärfen. „Die Gläubiger wollen uns erniedrigen, sie wollen die demokratisch gewählte Regierung Tsipras stürzen“, sagte am Samstagmorgen Stefanos Stefanidis, ein Passant, der am Athener Omoniaplatz die Titelseiten der an den Kiosken ausgehängten Zeitungen studierte. „Tsipras will alles zerstören, was wir seit dem Beitritt zur EU und zur Eurozone erreicht haben“, meinte dagegen die 55-jährige Verkäuferin Maria Petropoulou.
Während am Samstagvormittag in Athen ein Geldautomat nach dem anderen versiegte, bildeten sich auch vor den Tankstellen lange Schlangen. Offenbar fürchten viele Autofahrer, dass die Treibstoffversorgung schon bald zusammenbrechen könnte. So groß ist die Panik vieler Menschen, dass am Samstag auch ein Sturm auf viele Lebensmittelgeschäfte einsetzte. Im Supermarkt Alpha-Beta an der Lazaraki-Straße im Vorort Glyfada waren die Schlangen vor den Kassen doppelt so lang wie sonst. Vor allem Wasser und Grundnahrungsmittel wie Pasta, Milch, Kartoffeln und Hülsenfrüchte stapelten sich in den übervollen Einkaufswagen. Die Verkäufer kamen mit dem Nachfüllen der Regale kaum nach. „So etwas habe ich noch nie erlebt“, sagte eine der Kassiererinnen. Der Betrieb an den Kassen lief schleppend, weil die meisten Kunden nicht mehr mit dem knappen Bargeld sondern mit Bank- oder Kreditkarten zahlten. Das kostete Zeit.
500 Geldautomaten sind bereits leer
Vor allem die Lage der griechischen Banken wird nun immer kritischer. Nach Angaben aus Bankenkreisen waren am Samstagvormittag bereits rund 500 der mehr als 7000 Geldautomaten im Land leer. Einige Bankfilialen im Athener Zentrum, die normalerweise auch samstags öffnen, blieben geschlossen. Bereits vor dem beispiellosen Bank-Run vom Samstag hatten griechische Unternehmen und Privatkunden aus Angst vor einem Staatsbankrott und einem Zusammenbruch der Geldinstitute mehr als 35 Milliarden Euro von den Konten abgezogen. Die Einlagen, die Ende Dezember 2014 noch 160,3 Milliarden Euro betrugen, sind inzwischen nach inoffiziellen Angaben aus Bankenkreisen auf unter 125 Milliarden zusammengeschrumpft. Offen ist, ob die Banken am Montag überhaupt öffnen werden. Die Institute hängen am Tropf von Notkrediten der Europäischen Zentralbank (EZB). Voraussetzung für die Zuteilung dieser Liquidität ist aber, dass sich Griechenland unter dem Schutzschirm eines Hilfsprogramms befindet – und eben das läuft am Dienstag aus. Tsipras kündigte zwar an, er werde beantragen, das Programm „um ein paar Tage“ zu verlängern. Dass die Gläubiger zustimmen, war aber am Samstag unwahrscheinlich. Noch nicht ausgezahlte Hilfsgelder von rund 18 Milliarden Euro würden dann endgültig verfallen.
Dass Griechenland ein Bank-Run droht, der die dramatische Situation weiter verschlimmert, war natürlich auch in Brüssel bekannt. Athens Minister Yannis Varoufakis sagte, er setze darauf, dass die Europäische Zentralbank die griechischen Institute bis zur Abhaltung des Referendums weiter mit Notkrediten, der sogenannten Emergency Liquidity Assistance (Ela) versorgen werde. Die EZB hat die Obergrenze dafür in den vergangenen Tagen bereits mehrfach angehoben, weil die Griechen in den vergangenen Monaten und Wochen bereits einen zweistelligen Milliardenbetrag von ihren Konten abgehoben haben. Es gibt unterschiedliche Aussagen darüber, ob sich diese Entwicklung in den Stunden seit der Referendumsankündigung verstärkt hat. Allerdings gibt es eine Reihe von Kommentatoren, die der Meinung sind, EZB-Chef Mario Draghi könne ohne Aussicht auf den Abschluss eines Kreditprogramms keine weiteren Ela-Kredite mehr gewähren. Und ein möglicher Kollaps des Bankensystems würde das griechische Euro-Aus noch beschleunigen: „Wir dringen in den nächsten Tagen in völlig unbekanntes Gelände vor“, prophezeite der irische Finanzminister Michael Noonan.
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