EU und die Griechenland- Krise: Europa muss die Macht mehr konzentrieren, nicht zerstreuen
Die Dramatik um Griechenland zeigt: Die EU steckt in einer existenziellen Krise. Ein Zufall ist das nicht. Ein Essay.
Unser Kontinent befindet sich in einer existenziellen Krise. Nach fünf Jahren Eurokrise ist Europa einer Lösung der Schuldenproblematik in der südlichen Peripherie keinen Schritt näher gekommen. Griechenland steht kurz vor der Explosion. Mehr als ein Jahr nach der Annexion der Krim und der Zerstörung der alten rechtlichen und territorialen Ordnung Europas wächst der russische Druck auf die Ukraine und die baltischen Staaten weiter. Ein britischer Ausstieg aus der Europäischen Union nach einer Abstimmung über die Mitgliedschaft ist nun im Rahmen des Denkbaren.
Und, was alles noch schlimmer macht, Europa befindet sich mitten in einer Demokratiekrise – die Zunahme von Technokratenherrschaften ohne direkte demokratische Rechenschaftspflicht droht ganze Völker zu entrechten.
All das hat den Trugschluss der europäischen Eliten von der stufenweisen Entwicklung des Kontinents entlarvt: die Vorstellung nämlich, dass Europa nicht auf einmal in einem Hochofen zusammengeschmolzen, sondern langsam gebaut werden würde, Backstein um Backstein, Schritt für Schritt, peu à peu. Dabei zeigt der Blick in die Geschichte, dass erfolgreiche Bündnisse nicht in graduellen Angleichungsprozessen unter relativ erfreulichen Umständen entstanden sind, sondern nach harten Brüchen in Perioden großer Krisen. Die politische Einheit, die dieser Kontinent so dringend braucht, erfordert deshalb einen einzelnen gemeinsamen Willensakt – nicht nur der Regierungen und Eliten, sondern auch der Bürger.
Die Geschichte kennt zwei Typen von Unionen: Die polnisch-litauische Union und das Heilige Römische Reich Deutscher Nation waren schwache politische Einheiten, weil sie einerseits gelähmt waren durch internen Streit und andererseits der ständigen Einflussnahme von anderen Mächten ausgesetzt waren.
Sie entwickelten eine ausgeprägt konsensuale Form der Politik, die gut mit internen Differenzen umgehen konnte, aber schlecht mit Bedrohungen von außen; gleichzeitig wurden über Jahrhunderte hinweg langwierige Reformdebatten geführt, die letztlich ohne Auswirkungen blieben. Beide endeten zudem unschön: Polen wurde im späten 18. Jahrhundert geteilt, und zu Beginn des 19. kollabierte das Heilige Römische Reich unter dem Ansturm des revolutionären Frankreichs und Napoleon.
Die USA wurden zur Großmacht - weil England, nicht Deutschland das Vorbild war
An der westlichen Peripherie Europas vollzog sich jedoch ein ganz anderer Prozess. Dort wurde im 18. Jahrhundert eine andersartige und viel beeindruckendere Union entwickelt. 1707 beendeten die Engländer und die Schotten eine jahrhundertealte nationale, militärische, diplomatische und ökonomische Rivalität und taten sich zusammen – gegen die ideologische und strategische Bedrohung durch das bourbonische Frankreich.
Der „Act of Union“, das Vereinigungsgesetz, gab Schottland reichlich Mitsprache in Westminister, erlaubte ihm, sein Rechts- und Bildungssystem und seine nationale Identität zu behalten, vereinigte aber Parlament, Schulden, Armee und Außenpolitik mit England. So entstand das supranationale Vereinigte Königreich, eine politische Einheit, die seitdem weltpolitisch in einer höheren Gewichtsklasse als der eigenen boxt.
Im späten 18. Jahrhundert vollzog sich die Gründung der amerikanischen Union nach diesem Modell. Die 13 Staaten waren nach dem Krieg gegen die Briten schwer verschuldet und umgeben von räuberischen europäischen Großmächten. Der Kongress hatte jedoch nicht die Macht, die Steuern zu erhöhen, um für die gemeinsame Verteidigung zu bezahlen, und alle internationalen Vereinbarungen mussten von jedem einzelnen dieser Staaten abgesegnet werden, bevor sie Gültigkeit erlangten. So lose war die Konföderation, dass viele Amerikaner fürchteten, die Vereinigten Staaten könnten in ihre Einzelteile zerfallen, im Bürgerkrieg untergehen oder dem Expansionsdrang auswärtiger Mächte zum Opfer fallen.
Die Europäische Integration sollte Deutschland einhegen
Als die Vertreter der 13 Staaten 1787 in Philadelphia zusammenkamen, um sich auf eine Verfassung zu verständigen, überlegten sie sorgfältig, welches Unionsmodell Europas sie kopieren sollten. In den „Federalist Papers“, dem Ergebnis dieser Überlegungen, analysierten James Madison und Alexander Hamilton das „föderale System“ des „Deutschen Reichs“ und waren der Meinung, es sei ein „Körper ohne Nerven, unfähig, seine eigenen Teile zu steuern, schwach gegenüber Gefahren von außen und aufgewühlt von dem unablässigen Gären in seinem Innern“. Die polnische Union wurde aus ähnlichen Gründen abgelehnt. Vielmehr stieß von allen europäischen Vorläufern allein die englisch-schottische Union von 1707 bei den Amerikanern auf Zustimmung, in der zwei bis dahin so gegensätzliche Gruppierungen zusammengekommen waren, um „allen Feinden zu widerstehen“. Die in der Folge erarbeitete Verfassung zeigt, dass die Amerikaner von den britischen, deutschen und polnischen Erfahrungen gelernt hatten: Sie enthielt einige unverwechselbare Merkmale, doch im Grundsatz übernahmen die Amerikaner das britische Modell einer parlamentarischen, gemeinsam haftenden, außenpolitischen Union, in der die Macht zentralisiert war statt zerstreut. Den Rest kennen wir: Die Vereinigten Staaten wurden schließlich zur beeindruckendsten Macht der Welt.
Die Trennung zwischen militärischer und wirtschaftlich-politischer Integration erwies sich als verhängnisvoll
Die europäische Integration nach 1945 hatte einerseits das Ziel, die Europäer davon abzuhalten, wieder gegeneinander Krieg zu führen. Andererseits sollte sie Deutschland einhegen und dem Land strukturell die Möglichkeit für militärische Angriffe nehmen. Und schließlich sollte sie Europas massives militärisches und ökonomisches Potenzial für die westliche Sache gegen die sowjetische Bedrohung mobilisieren. Aber während für die Befriedung Europas und die Einhegung Deutschlands ein verfassungsrechtliches Arrangement und eine politische Kultur gebraucht wurden, die dem Heiligen Römischen Reich ähnlich waren – in der das enorme Machtpotenzial des Kontinents diffundierte –, erforderte die Abwehr der Russen eine starke Union, wie die von den Briten und Amerikaner gegründete.
Nach dem es nicht zu einer politisch-militärischen Union gekommen war, wie in der „Europäischen Verteidigungsgemeinschaft“ angedacht, die in der Mitte der 50er Jahre an den Bedenken der Franzosen scheiterte, beschränkte sich die Integration auf ökonomische, kulturelle und politische Bereiche, exemplifiziert durch die Schaffung der „Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ im Jahr 1957. Die militärische Integration blieb im Bereich der Nato. Diese Trennung sollte sich als verhängnisvoll für die Aussichten einer vollständigen politischen Föderation herausstellen. Anders als die britischen und amerikanischen Unionen ging es in Europa nicht mehr um Leben und Tod. Stattdessen übertrugen die Europäer viele der regelbasierten, konsensualen, aber auch sklerotischen Traditionen des Heiligen Römischen Reichs auf das, was später zur Europäischen Union werden sollte – mit allen Vor- und Nachteilen, die damit einhergingen. Die europäische Integration wurde zu einem langwierigen Prozess, und nicht zu einem angelsächsischen Ereignis.
Daran änderte auch das Ende des Kalten Krieges 1989/90 nichts, als die Sowjetunion sich zurückzog und die Wiedervereinigung das relative politische und demographische Gewicht Deutschlands dramatisch erhöhte. Frankreich stimmte der deutschen Wiedervereinigung zu – im Gegenzug für die eisenharte Zusage einer stärkeren politischen und ökonomischen Integration. Daraus entstand der Euro, dessen wirtschaftliches Ziel Wachstum und dessen strategische Funktion die Abschaffung der D-Mark war, die aus Sicht der Franzosen die deutsche „Nuklearwaffe“ war. Gleichzeitig wurde jedoch kein analoges politisches Einigungsprojekt ins Leben gerufen, das wie im angelsächsischen Modell auf einer einzigen, für die gesamte Union geltenden parlamentarischen Repräsentation aufgebaut wäre. Großbritannien hielt sich bewusst heraus, mit dem Argument, dass eine Mitgliedschaft in der Eurozone auf Kosten von Souveränität gehen würde und eine Gemeinschaftswährung ohne eine volle politische Union nicht funktionieren könne.
Die mangelnde Stabilität Europas wurde schonungslos aufgedeckt
Die Europäische Union schuf eine Gemeinschaftswährung und versuchte, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu etablieren, ohne parallel dazu vorher eine föderale politische Befugnisgewalt zu schaffen, die das demokratische Mandat aller Bürger Europas hinter sich hat. Die Erweiterungen von Nato und EU führten zudem nicht dazu, Deutschland weiter in Europa einzubetten, sondern dazu, dass es zum ersten Mal in seiner Geschichte von freundlich gesinnten demokratischen Nachbarn umgeben war. Das senkte Deutschlands Interesse dramatisch, sich für die Sicherheit des Kontinents als Ganzem einzusetzen, schließlich verlief die Frontlinie nun nicht mehr quer durch das eigene Land, sondern viel weiter im Osten, in Polen, der Ukraine und den baltischen Staaten.
Die mangelnde Stabilität dieser Konstruktion haben die Ereignisse schonungslos aufgedeckt. Die globale Finanzkrise führte zu einer Staatsschuldenkrise in Irland, Portugal und vor allem in Griechenland, die immer wieder das Überleben der Eurozone infrage stellt. Seitdem hat Russland die Krim erobert, die erste Landnahme auf dem Kontinent seit dem Zweiten Weltkrieg. In beiden Fällen fehlten Europa schlicht die notwendigen finanziellen, politischen oder militärischen Instrumente, um angemessen darauf zu reagieren.
Wir brauchen: Eurobonds, eine gemeinsame Armee und ein Parlament, das Gesetze beschließen kann
Wir sehen daher zwei trostlosen Szenarien entgegen: der Zerfall der Eurozone, einschließlich eines plötzlichen, ungeregeltem Zahlungsausfalls mit schwerwiegenden Erschütterungen für die gesamte Union; und weitere russische Angriffe, möglicherweise gegen ein EU- und Nato-Mitgliedsland. Beide Fälle wären eine Katastrophe für die Stabilität des Kontinents. Europa ist also mit einer Vielzahl von Gefahren konfrontiert – ganz ähnlich denen, die die Amerikaner davon überzeugten, sich Ende des 18. Jahrhunderts zusammenzuschließen: ein eskalierendes Staatsschuldenproblem, tiefe Zerwürfnisses zwischen den Mitgliedsstaaten und eine Reihe von äußeren Konkurrenten, die bereit sind, sich das Machtvakuum zunutze zu machen.
Wir müssen deshalb zu den Grundprinzipien zurückkehren. Wir müssen begreifen, dass die politische Vereinigung Europas ein Ereignis sein muss und nicht ein Prozess. Wir sollten vom Vereinigten Königreich das Prinzip einer supranationalen Union übernehmen und von den Vereinigten Staaten den Ausgleich zwischen regionalen und föderalen Interessen. Die Eurozone sollte Vertreter für einen neuen Verfassungskonvent wählen, der alle bisherigen Vereinbarungen, einschließlich des deutschen Grundgesetzes, ersetzt. Im Anschluss daran sollte in allen Ländern gleichzeitig ein Referendum abgehalten werden und dann sofort eine vollständige Union – fiskalisch und militärisch – auf dem Kontinent entstehen. Wir brauchen: ein EU-Parlament, das Gesetze auf den Weg bringen darf; die Föderalisierung aller gegenwärtigen Staatsschulden in einem einzigen Schritt durch die Ausgabe von Eurobonds, gedeckt durch das gesamte Steueraufkommen der Währungsunion, und eine aus den USA bekannte strikte Schuldengrenze für die dann nicht mehr souveränen Mitgliedsländer; die kontrollierte Auflösung insolventer privater Finanzeinrichtungen; und die Aufstellung einer gemeinsamen europäischen Armee innerhalb der Nato.
Eine vollständige politische Union wird den Euro stabilisieren, die Märkte beruhigen und Wladimir Putin abschrecken. Es ist die einzige Struktur, die die Europäer dafür begeistern kann, ihr gemeinsames Schicksal zu verfolgen, statt sich gegen einander zu stellen, und die Deutschland wirtschaftlich und militärisch integriert, ohne die Deutschen oder eine andere Bevölkerung innerhalb der Union zu entrechten. Nur eine solche Struktur stellt sicher, dass die Europäische Union eine Institution wird, in der Macht konzentriert und nicht zerstreut wird.
Brendan Simms