Berlins Koalition: Die Gestaltungsressorts gehören Grünen und Linken
Die kleineren Partner haben die Chance, sich zu profilieren, der SPD bleiben eher die Politikfelder, die für negative Schlagzeilen stehen. Rot-Rot-Grün muss jetzt beherzt die Stadt gestalten. Ein Kommentar zum neuen Berliner Senat.
Jetzt steht Rot-Rot-Grün. Viel Aufbruch auf hunderten Seiten Koalitionsvereinbarung. Ein Umsturz sähe anders aus. Aber wer braucht auch eine Revolution, wenn hier eine verlässlich funktionierende Verwaltung schon revolutionär ist?
Für Michael Müller geht es darum, im zweiten Anlauf zu erfüllen, was sich die Berliner bei seinem Amtsantritt 2014 erwartet hatten: ein unglamouröser Sachwalter der Bürgerinteressen zu sein, der in einer Stadt mit Wachstumsschmerzen durch harte Arbeit und das Justieren von vielen Stellschrauben den Alltag der Menschen leichter macht und die Sorge nimmt, dass Berlin unbezahlbar wird.
Nach den verschenkten Jahren, in denen sich SPD und CDU im Senat blockierten, müssen nun die durch Zuzug, Wirtschaftsaufschwung und Kulturboom gewachsenen Zukunftschancen beherzt gestaltet werden. Da geht es ums Große und ums Kleine, um Klimarettung und Kitaplätze. Und an der Güte der Verwaltung wird die neue Landesregierung gemessen werden, nicht an symbolischer Verkehrspolitik zugunsten von Radlern und Fußgängern.
Noch ist alles nur Papier. Manches ist enttäuschend, mancher Wunsch blieb unerfüllt, weil man sich nicht einigen konnte. So ist das in Koalitionen. Wie die Infrastruktur modernisiert, wie jährlich 6000 Sozialwohnungen gebaut werden können und das schwächliche Stadtwerk zum kraftvollen Akteur der Energiewende werden kann, wird den Senat immens fordern. Eine reine Verlegenheitslösung ist, dass Andreas Geisel künftig nicht mehr die Stadt, sondern als Innensenator nun eine Sicherheitsarchitektur planen muss. Die Besetzung verstärkt den Eindruck, dass in der neuen Koalition das Thema Kriminalität nur nachrangig ist.
Müller setzt mit Wissenschaft starkes Signal
Nach zehn Jahren wieder ein eigenes Ressort für Kultur zu schaffen, ist angesichts ihrer enorm gewachsenen Bedeutung überfällig. Ein starkes Signal ist, dass der Regierende Bürgermeister die Kultur abgibt und sich dafür um die wichtigste Ressource der Stadt kümmert, um die Bereiche Wissenschaft und Forschung. Gut, dass die 2011 sinnlos getrennten Bereiche wieder vereinigt werden. Ob das fordernde Ressort angesichts der vielen Aufgaben eines Regierenden Bürgermeisters von Müller mit der nötigen Konzentration geführt werden kann oder Reibungsverluste entstehen, ist offen.
Ein linker Kultursenator muss das Misstrauen vertreiben, er könnte sich mit nostalgischer Volksbühnenverklärung hervortun und die Aufarbeitung der SED-Vergangenheit links liegen lassen, statt die kulturelle Weltgeltung Berlins voranzubringen. Die grüne Fraktionschefin Ramona Pop kann wiederum beweisen, wie Start-ups und die traditionellen Unternehmen gleichermaßen gestärkt werden und ein ökologischer Stadtumbau, der sich auf den Klimawandel einstellt, auch die Wirtschaft wachsen lassen kann.
Müller hat sich mit Dilek Kolat, Sandra Scheeres, Matthias Kollatz-Ahnen und Geisel eine Komfortzone aus Getreuen geschaffen. Ob die SPD mit der Ressortverteilung glücklich wird oder ob die Risslinien in der Partei tiefer und die seit dem schlechten Wahlausgang vorhandene Kritik an Müller lauter wird, ist ein anderes Thema. Grüne und Linke haben sich jedenfalls die wichtigen Gestaltungsressorts gesichert, mit denen man sich profilieren kann, der SPD bleiben außer der Wissenschaft nur Bildung, Soziales oder Inneres, die eher für Probleme und negative Schlagzeilen stehen.
Unter Beobachtung steht das Experiment Rot-Rot-Grün ab dem ersten Tag; auch als Probelauf für eine mögliche Koalition im Bund nach der Wahl im Herbst 2017. Für ein Regieren mit ruhiger Hand wird das nicht gerade förderlich sein. Durch die nahende Bundestagswahl stehen alle Partner zudem unter Profilierungsdruck. Außerdem erwartet die für Grüne und Linke wichtige Basis schnell vorzeigbare Erfolge. Entscheidend für den Erfolg der Koalition wird deshalb auch sein, ob der Regierende Bürgermeister seine bunte Truppe auf Augenhöhe führt oder in die Krise schulmeistert. Die ersten 100 Tage werden spannend.
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