Attentat auf Berliner Breitscheidplatz: Eine Tat – und viele Fragen
Neue Enthüllungen im Fall Amri zeigen: Zu viele Pannen sind passiert, zu viele Hintergründe sind ungeklärt. Eine unvollständige Übersicht.
Anis Amri tötete am 19. Dezember 2016 beim Attentat auf dem Breitscheidplatz zwölf Menschen, 56 wurden verletzt. Nun gibt es Hinweise darauf, dass ein V-Mann des Landeskriminalamtes Nordrhein-Westfalen ihn zum Attentat angestiftet haben könnte. Das wäre eine weitere beunruhigende Wendung in einem Fall, der ohnehin ein schlechtes Licht auf die Arbeit deutscher Behörden wirft.
Identitäten
Wer ist dieser Mann, großmäulig, gewalttätig, gewohnheitskriminell? Lange ist nicht klar, wer Anis Amri genau ist – und ob er tatsächlich so heißt. Amri kommt 2011 als 19-Jähriger aus Tunesien in Italien an, dort prügelt er, stiehlt, legt Feuer. Amri wird zu vier Jahren Haft verurteilt. Nach der Entlassung wird er aber nicht abgeschoben, was nicht erst heute viele Experten wundert. Amri reist im Juli 2015 nach Deutschland. In Freiburg, Karlsruhe, Dortmund, Münster und Berlin lässt er sich als Asylbewerber registrieren – unter bis zu 14 falschen Namen.
Dauerstraftäter
Noch im Sommer 2015 befassen sich die deutschen Behörden mit dem Mann. Amri lässt sich in Karlsruhe als Tunesier und in Dortmund als Ägypter registrieren; man fragt nach, ist aber bald überfordert – die Flüchtlingskrise bindet offenbar das Personal. Zumal Amri durch das Land fährt. Unter dem Namen „Ahmad Zaghoul“ bemüht er sich im Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales, dem Lageso, um Unterkunft und Geld. Die Sicherheitsfirma dort hat ihre Wachleute befragt, einer erklärte, Amri habe den Mitarbeiter „mit Faustschlägen ins Gesicht“ angegriffen. Später lässt er sich in Dortmund und Münster erneut registrieren, wieder andere Identitäten. Im Dezember 2015 gibt es Hinweise eines V-Manns aus Nordrhein-Westfalen, Amri plane ein Attentat – auch wenn das wohl der V-Mann ist, der sich nun laut RBB-Recherchen selbst als Anstifter entpuppen könnte.
Jedenfalls wird Amri in der Terrorabwehrzentrale GTAZ in Berlin zum Thema, zudem durch Schlägereien auffällig. Im Februar 2016 werden Kontakte zu IS-Männern auf Amris Handy gefunden. Bald ist er als Dealer aktiv: Kokain, Cannabis, auch Hehlerware. Die Polizei observiert ihn damals aber als islamistischen Gefährder. Im Juli 2016 überfällt Amri in Neukölln eine Spelunke, in der andere Dealer sitzen. Das Verfahren gegen Amri wurde wegen „vorübergehender Hindernisse“ eingestellt, heißt es von der Staatsanwaltschaft, auch weil gegen einen Anis „Amir“ ermittelt wurde. Keine Behörde hat sich für die Abschiebung des Mannes eingesetzt.
Überforderte Behörden
Kürzlich hat der vom Senat eingesetzte Sonderermittler und Ex-Bundesanwalt Bruno Jost „schwere Fehler“ im Fall Amri dokumentiert – gerade bei Observation und Überwachung der Telekommunikation durch das Landeskriminalamt (LKA) Berlin. Amri meist tagsüber zu folgen, sei bei „einem nachtaktiven Drogendealer“ problematisch. Doch Jost sagt auch, was Berufsverbände und Kriminologen wissen: „Die Arbeitsbedingungen beim LKA waren katastrophal.“ Innensenator Andreas Geisel (SPD), der erst Tage vor dem Attentat ins Amt kam, erklärte: „Das LKA hatte mehrfach Verstärkung gefordert und scheiterte damit an der damaligen politischen Führung“ – also an Geisels CDU-Amtsvorgänger Frank Henkel. Dabei dürfte das Personal selbst bei realistischer Aufstockung schlicht nicht für eine Dauerbeobachtung jedes potenziellen Attentäters reichen. Allein in Berlin leben fast 100 Islamisten, denen Terrorakte zugetraut werden. Dazu kommen tausende Männer, die aus anderen Gründen beobachtet werden müssten.
Ausweisung
Im Fall Amri haben die Behörden offenbar versagt – sie haben Gelegenheiten verstreichen lassen, den Mann abzuschieben, der das Attentat auf dem Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz verübte, obwohl es Möglichkeiten gegeben hätte. Das Werkzeug der „Gefährderabschiebung“ besteht seit 2005 – Berlin macht bis heute nicht davon Gebrauch. Selbst offiziell heißt es, eine „hohe zweistellige Zahl“ von Gefährdern sei in der Stadt, von denen allerdings die Hälfte die deutsche Staatsangehörigkeit besitze. Andere Bundesländer setzen auf mehr Strenge – es betrifft oft dauerauffällige Täter aus Nordafrika. Wie Amri.