Flüchtlingscamp in Bangladesch: Die Furcht der Rohingya vor dem Monsun
Hunderttausende Rohingya hausen in Kutupalong, dem derzeit größten Flüchtlingscamp der Welt in Bangladesch. Dort beginnt bald die Regenzeit. Nach der Vertreibung droht die nächste Katastrophe.
Beim Blick aus dem Busfenster auf dem Weg zum größten Flüchtlingslager der Welt wähnt man sich an manchen Kurven im sommerlichen Schleswig-Holstein, Mecklenburg vielleicht. Eine frisch asphaltierte Landstraße schlängelt sich durch die flache Landschaft. Felder, gerade Hecken, frisches Grün, umzäunte Hütten. Gutshöfe sind es doch eher nicht. Viele Palmen, es ist heiß. Das Dauerhupen eines rasenden Schrott-Lkw holt einen endgültig zurück in die Realität: Bangladesch, Distrikt Cox's Bazar, Straße gen Kutupalong – einen großen Ort, der aber in kaum einer Landkarte verzeichnet ist, da es ihn so seit nicht einmal einem Jahr gibt.
Nach der vorletzten Kurve wird es hügelig, der Asphalt zur Staubpiste, am Rand stehen rund 50 Frauen und Kinder vor einer Ausgabestelle für irgendwas an, sie ziehen ihre Schleier enger vors Gesicht und starren die Leute im Konvoi an. Grund dafür könnten Soldaten mit Gewehren an Bord der Busse sein. Ein Uniformierter neben dem Fahrer flucht, erklärt ein sprachkundiger Reporter aus Indien.
Die Zentralregierung in der fernen Hauptstadt Dhaka hatte unlängst Sicherheitskräfte abgestellt – zum Schutz der ausländischen Journalisten. Reporter aus Ländern wie Deutschland, Kanada, der Türkei über Brasilien und Südkorea bis nach Äthiopien wollten und sollten sehen, wie der stolze Staat Bangladesch versucht, mit einer Flüchtlingskrise fertigzuwerden, die durch die Vertreibung der Rohingya aus dem östlichen Nachbarstaat Myanmar ausgelöst worden ist. Auch Begleiter in Anzügen und Krawatte aus Bangladeschs Außenministerium sind mitgereist. Auch sie sind zum ersten Mal hier – und werden wortkarg, wirken angespannt.
Denn anders als in Deutschland, wo man die ab 2015 ankommenden Flüchtlinge gleich nach der Ankunft auf die Kommunen im Land verteilt hat, leben hier fast alle Ankömmlinge auf einem Landstrich. Und damit nicht unter den Augen der meisten 160 Millionen Bangladescher. Rund 1,1 Millionen Männer, Frauen und Kinder der Stämme der Rohingya sollen allein seit August über die östliche Grenze gekommen sein. Mehr als 700.000 davon hausen jetzt in 23 Camps in und um Kutupalong. (Bereits im Januar 2018 hatte der Tagesspiegel das Camp besucht, lesen Sie hier die Reportage). Kutupalong liegt nur wenige Kilometer vom Meer, dem Golf von Bengalen, entfernt, wo viele buchstäblich gestrandet sind. Und nur wenige Kilometer vom Grenzfluss Naf, der Bangladesch von Myanmar trennt, diesem so schönen wie lebensgefährlichen Land der Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi.
Außenminister: Für dauerhafte Aufnahme gibt es "keine historische Basis"
Bangladeschs Außenminister Abdul Hassan Mahmoud Ali hatte den Journalisten zuvor noch persönlich mit auf den Weg gegeben, warum die Rohingya seiner Ansicht möglichst schnell nach in ihre Heimat zurückkehren müssten. Dort hätten sie und ihre Vorfahren schließlich mehr als 1000 Jahre lang gelebt. Ja, es handele sich um Glaubensbrüder, sunnitische Muslime, während Myanmar vom Buddhismus geprägt sei, aber hierzulande verstehe man noch nicht einmal ihre Sprache, es gäbe zudem viele unterschiedliche Rohingya. Es sei ein „kurioser Mix von Stämmen“, sagte Ali.
„Für eine dauerhafte Aufnahme gibt es keine historische Basis“, erklärte er – und gab den Gästen noch die Kopie eines Buches, in dem dargestellt wird, wie Myanmar schon seit Jahrzehnten systematisch die Vertreibung der Rohingya vorbereitet habe.* Es wurde 2016, noch vor Ausbruch dieser Flüchtlingskrise, veröffentlicht. Die darin geäußerten Befürchtungen und Horrorszenarien wurden an Grausamkeit offenbar noch übertroffen, wie die Reporter später aus erster Hand erfahren sollen.
Man habe diesen Menschen vorübergehenden Schutz gewährt, da Bangladesch sich aus humanitären Gründen verpflichtet fühle, sagte der Minister noch. Zudem erinnerte er an die Millionen Bangladescher, die im Befreiungskrieg gegen Pakistan 1971 vom Nachbarn Indien aufgenommen worden waren. Und an die vielen Soldaten, die sein Land heute für internationalen UN-Missionen abstelle. Man sei eine verantwortungsbewusste Nation.
Bis vor ein bis zwei Jahren galt Dadaab im Nordosten Kenias nahe der Grenze zu Somalia mit 400.000 Einwohnern als das größte Flüchtlingslager der Welt – und als das gefährlichste, wie Reporter von dort berichteten. Sind Kutupalong und die teils ineinander übergehenden Camps in Bangladesch mit insgesamt 700.000 Menschen also noch gefährlicher? Immerhin sollen einige Rohingya in ihrer Heimat Polizeistationen angegriffen haben, die Hauptstadt Dhaka erlebte einen islamistischen Anschlag. Und die Presse in Indien argwöhnt sowieso permanent, dass Bangladesch mit den Rohingya den Terror auf den Subkontinent hole.
Viele Kinder, kleine Geschäfte - und mindestens ein Dortmund-Fan
Der Bus kommt zum Stehen, die hügelige Staubstraße zwischen Hütten erlaubt keine Weiterfahrt: Aussteigen, die Sonne brennt. Die Gastgeber fordern zum Zusammenbleiben auf, aber die Reporter schwärmen aus: Überall Kinder, einige schauen vorsichtig, andere lachen gleich los. Gleich so viele Bleichgesichter! Die Soldaten halten sich endlich im Hintergrund. Entlang einer Hauptstraße stehen Hütten aus Bambus, verstärkt mit weißen Planen mit Aufdruck des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR. Einige haben ein kleines Solarmodul auf dem Dach. Winzige Läden haben schattenspendende Vordächer hochgeklappt. Sie verkaufen Shampoo und Kartoffelchips. Ein paar Zehnjährige bieten Hühner zum Verkauf.
Die erwachsenen Rohingya lassen sich von den Besuchern kaum ablenken. Sie tragen Eimer und Tragetaschen, Regenschirme gegen die Sonne. Viele Männer kleiden sich in für Bangladesch untypische Wickelröcke – kombiniert mit Polohemden. Querstreifen scheinen gerade groß in Mode. Es gibt auch T-Shirts mit Aufdrucken unzähliger Hilfsorganisationen, mindestens einen Borussia-Dortmund-Fan.
Die Stadt ist auf zahllosen Sandhügeln gebaut. Da kein Haus mehrstöckig ist, hat man von vielen Stellen einen weiten Blick auf das Hüttenmeer. Aber kein Turm bietet dem Auge Halt. Ortskundige orientieren sich an Flaggen, die Hilfsorganisationen an langen Stangen über ihren Zentren aufgezogen haben. Ein Hauptweg führt in Richtung der weißen Flagge mit rotem Halbmond – vorbei an sechs Plumpsklos hinter Wellblech über eine Baustelle: Dort setzen ein paar Männer mit Mörtel letzte Backsteine in den rotgelben Sand zu einer 50 Meter langen Treppe. Ohne Stufen wäre diese Stelle, vor allem nach einem Regenguss, extrem gefährlich.
Der Camp-Leiter hält Massenhochzeiten ab
Das kann der Leiter des zentralen Camps von Kutupalong glaubwürdig bestätigen: Als der Anfang 40-jährige Beamte Shamimul Huq Pavel eine Versammlungshütte betritt, um den Gästen die Lage der Dinge zu schildern, nimmt er zunächst eine Halskrause ab. Die hat er nach einem Sturz verordnet bekommen, genau wie Manschetten an beiden Handgelenken. Über einem schwarzen T-Shirt trägt er eine beigefarbene Weste mit der Aufschrift der staatlichen Organisation RRRC, die die Arbeit aller ausländischen Hilfsorganisationen koordiniert.
Auf Fragen antwortet Pavel knapp, er habe eigentlich kaum Zeit. Zehn bis 14 Kilometer laufe er jeden Tag durch das Lager, sagt er. In seiner Gürteltasche trägt er zwei Handys und gleich mehrere Akkupacks. Seit Monaten habe er keinen freien Tag gehabt. Auf die Frage, was genau seine Aufgabe sei, antwortet Herr Pavel: Er sei Schlichter und Richter, Chef und Mann für alles. Er solle in seiner Funktion als quasi „Dorfältester“ sogar Ehen schließen. Aber weil allein seine Sektoren in diesem Camp ja mehre Hunderttausend Einwohner hätten, habe er Tage für Massenhochzeiten eingeführt.
Pavel bestätigt den ersten Eindruck, dass fast alle Menschen hier sehr friedlich seien. Zugleich rechne er damit, dass sich mit der Zeit die kleinen Mafiabanden, die es natürlich gebe, langsam breitermachen würden. Das Lager sei im Übrigen nicht umzäunt. „Sie können jederzeit gehen, aber warum sollten sie das tun, wenn es hier alles gibt und sie außerhalb des Camps für alles bezahlen müssten?“ Essen, Kleidung, Impfungen, Krankenversorgung: Tatsächlich steht im Zentrum alle paar Hundert Meter eine Station einer oder mehrerer internationaler Hilfsorganisationen.
Die Einheimischen blicken mit Argwohn auf das Lager
Geld von Staaten und Privatspendern ist geflossen – und offensichtlich hier angekommen in Kutupalong. Die Menschen wirken körperlich gesund, viele Kinder auch fröhlich an diesem Mittag. Aber viele müssen krank sein vor Angst. Doch das sehen die rund 500.000 Bangladescher, die plötzlich Minderheit sind in dieser Provinz, nicht. Die Flüchtlinge haben alles, sie nichts. Und es stimmt wohl: Die Jeeps, das Geld aus dem Ausland, rasen durch ihre Dörfer zu den Rohingya und lassen auf dem Weg kaum etwas fallen. „Die lokale Wirtschaft da unten liegt am Boden“, sagt ein Offizieller in Dhaka.
Die Begleiter drängen zur Abfahrt ins sichere Hotel am Strand der Touristenstadt Cox's Bazar, dorthin, wo auch die UNHCR-Mitarbeiter absteigen nach einem staubigen Arbeitstag im Camp, dorthin, wo ein Angestellter die blütenweißen Toyota-Jeeps mit einem Staubwedel pflegt und Kratzer aus dem Lack poliert, wo keine Kratzer sind. Aber die Journalisten finden Dolmetscher – und sprechen Leute an, zum Beispiel Rehana Khatun. Die damals frisch verheiratete 20-Jährige berichtet, sie sei vergewaltigt worden, während man ihren Mann mit einer Axt erschlug. Sie sei geflohen und versuche hier wieder Halt zu finden. Aber der Tag vor sieben Monaten verfolge sie bis heute. Sie wolle ja zurück, aber wie das gehen solle ohne Schutz und Garantien?
Madina, eine etwa 40-Jährige, behauptet, ihre Nachbarin Fatima sei von Soldaten und Polizisten vergewaltigt worden, als die „ethnischen Säuberungen“, wie die UN es auch offiziell nennen, begannen. „Ich habe junge Töchter und hatte Angst um sie. Die Vergewaltigung, die Folter, die Brandstiftung und Gewalt ist noch ganz frisch. Ich kann mir keine Rückkehr unter diesen Umständen vorstellen.“ Und Mumtaz Begum berichtet, wie ihre 60-jährige Schwiegermutter erschlagen worden sei. Da sei sie mit ihrem Mann und acht Kindern geflohen. „Die Menschen werden hier natürlich auch psychologisch betreut“, sagt Campchef Pavel noch. Doch ein Problem sei, dass es zu wenig zu tun gebe. Kaum Ablenkung. Da kämen Menschen ins Grübeln.
Die Rohingya fordern Schutz bei ihrer Rückkehr
Am Sonntag überreichten Vertreter der Rohingya beim Besuch einer UN-Delegation eine Liste mit 13 Forderungen. Darin verlangten sie unter anderem die Präsenz internationaler Sicherheitskräfte im Norden des myanmarischen Bundesstaates Rakhine, eine Rückführung der Flüchtlinge unter Aufsicht der UN sowie eine Wiederherstellung ihrer Bürgerrechte in Myanmar.
Lagerchef Pavels größte Sorge gilt derzeit dem Kalender: In etwa vier Wochen beginnt die Regenzeit. Die Hütten stehen eng, viele wirken kaum stabiler als Zelte. Der Boden dürfte aufweichen, Abhänge abrutschen, Krankheiten sich verbreiten. Regelmäßig treffen hier Zyklone auf Land – die alles hinwegfegen. Der Golf von Bengalen überflutet oft weite Flächen hier im Süden des Landes. Deutschland unterstützt Bangladesch beim Küstenschutz. Riesige Sandsäcke und Pylonen aus Beton sollen die Strände befestigen.
Doch wohin sollen die Flüchtlinge gehen? Auf eine vorgelagerte und bisher unbewohnte Sumpfinsel 30 Kilometer vor der Küste, ist ein Plan. Bhasan Char, was „schwimmende Insel“ bedeutet, ist von der Welt isoliert und wohl noch mehr gefährdet. (Lesen Sie hier mehr zu dem Plan). Britische und chinesische Firmen bauen dort gerade einen Deich und mauern Häuserblocks für je 16 Familien. Insgesamt 100.000 Rohingya und 50 Soldaten sollen dort unterkommen können. Oder nimmt ein anderes Land sie auf?
Die bewaffneten Begleiter drängen zur Rückfahrt. Am Nachmittag kommt Sturm auf. Blick aus dem Hotelzimmerfenster: Es ist sehr windig, regnet und wird sogar ein wenig kühl. Schleswig-Holstein lässt grüßen – und ist doch so weit weg.
* Azeem Ibrahim, The Rohingyas - Inside Myanmar’s hidden genocide, Hurst C & Co Plublishers Ltd, London 2016, 14,99 Euro ISBN 978-1-84904-623-7.
Die Recherche wurde unterstützt durch das Außenministerium von Bangladesch.
In eigener Sache: Tagesspiegel-Leser helfen Rohingya
Angesichts der großen Not der Rohingya hatte der Spendenverein des Tagesspiegel sich innerhalb seiner 25-Jahre-Jubiläums-Spendenaktion „Menschen helfen!“ 2017/18 kurzfristig entschieden, auch für Projekte zugunsten der verfolgten muslimischen Minderheit zu sammeln. Gemeinsam mit dem traditionellen Partner bei der Auslandshilfe und der Entwicklungszusammenarbeit des Tagesspiegel-Spendenvereins, der Deutschen Welthungerhilfe, unterstützen wir die Versorgung der nach Bangladesch geflüchteten Menschen im Bereich Hygiene und Gesundheit. 13.000 Euro aus dem Spendeneingang können wir verwenden, damit konnten die Helferinnen und Helfer der DWHH und lokaler Organisationen etwa Hygiene-Kits für die Menschen in den Lagern von Kutupalong beschaffen. Weitere Spenden auf Tagesspiegel-Konto sind möglich.
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