Zentrum für Politische Schönheit: Die Flüchtlingspolitik zu Grabe getragen
Kunst darf alles, heißt es oft. Aber dürfen Künstler auch Leichen exhumieren und für politische Aktionen benutzen? Wir hinterfragen das Vorgehen der Gruppe "Zentrum für politische Schönheit".
Eine Berliner Künstlergruppe, das „Zentrum für politische Schönheit“, provoziert mit einer umstrittenen Aktion: Sie überführt und bestattet im Mittelmeer ertrunkene Flüchtlinge auf Friedhöfen in der Hauptstadt, um auf deren Schicksal aufmerksam zu machen.
Wie berechtigt ist der Protest?
Was die Verantwortung für die Toten im Mittelmeer angeht, trifft die Aktion den Punkt: Die Politik Europas hat mit ihrer Flüchtlingsabwehr das Mittelmeer zu jenem Massengrab gemacht, das es heute ist – darüber sind sich auch alle einig, die sich wissenschaftlich mit Migration beschäftigen. Da Europa alle legalen und auch praktisch sämtliche Wege zu Lande und in der Luft versperrt hat, sind Flüchtlinge und andere Migranten auf den gefährlichsten Weg verwiesen, den übers Meer.
Die aktive Beteiligung europäischer Marineverbände oder Küstenwachen an diesem Sterben – weil sie Hilfe unterließen oder die Menschen zurücktrieben – wurde sogar vom Europarat selbst in einer Untersuchung nachgewiesen und vor drei Jahren in einem spektakulären Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aufgedeckt.
Das Sterben freilich ist seitdem weitergegangen - und nach Abhilfe aus Brüssel sieht es noch immer nicht aus. Den aktuellen Streit um die Verteilung von Flüchlingen per Quote auf die europäischen Staaten nennt Günther Burkhardt „realitätsfern“. Im Augenblick, so der Geschäftsführer der Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl, müsse es vielmehr um die Rettung und Versorgung der Überlebenden gehen: In Griechenland landeten täglich Hunderte Schutzbedürftige: „Wie soll denn das völlig verarmte Griechenland das schaffen?“
Wie dramatisch ist die Lage im Meer?
„Ein Friedhof namens Mittelmeer“ überschreibt Gabriele Del Grande die Todesstatistik in seinem Blog „Fortress Europe“ (Festung Europa), der die Opfer des Wegs nach Norden seit 1988 verzeichnet. Nach seiner Rechnung sind in jenen fast drei Jahrzehnten 21439 Menschen vor Europas südlicher Seegrenze beim Versuch ums Leben gekommen, ein besseres Leben zu finden oder auch nur ihr nacktes Leben zu retten. Der italienische Journalist und seine Beobachtungsstelle werten dafür ständig Nachrichten über Flüchtlingskatastrophen in der intenationalen Presse, vor allem der Herkunfts- und Transitländer aus.
Allein 2 352 Tote verzeichneten sie dabei im Jahr des Arabischen Frühlings und des Libyenkriegs 2011. 590 Tote zählten sie 2012, 801 im Jahr darauf und zwischen Januar und Oktober letzten Jahres bereits 2 086 tote Schiffbrüchige. Die tatsächliche Zahl dürfte weit größer sein, schreibt Del Grande, denn über viele der Toten gibt es keine Nachrichten, zahlreiche Flüchtlingstragödien geschehen unterhalb der Wahrnehmungsschwelle der internationalen Öffentlichkeit. Ihre Geschichten kennen, so Del Grande, „nur ihre Familien, die seit Jahren keine Nachrichten der Vermissten haben“.
Darf Kunst alles?
Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei, heißt es im Grundgesetz. Schwierig wird es allerdings bereits bei der Frage, was Kunst eigentlich ist. „Freie schöpferische Gestaltung“, heißt es in der Rechtsprechung, für die es kennzeichnend sei, dass es wegen „der Mannigfaltigkeit ihres Aussagegehalts möglich ist, der Darstellung im Wege einer fortgesetzten Interpretation immer weiter reichende Bedeutungen zu entnehmen.“ Dies mag auch für die Aktionskunst der Gruppe gelten.
Dennoch kann die Kunstfreiheit durch kollidierendes Verfassungsrecht beschränkt werden. Meist geht es dabei um Persönlichkeitsrechte, etwa wenn sich verfremdete Personen in Schlüsselromanen wiederfinden. Aber das Bundesverfassungsgericht hat sich auch schon damit befasst, ob Kunstwerke die Menschenwürde Verstorbener beeinträchtigen kann. Ergebnis: Es kommt auf den konkreten Aussagegehalt des Kunstwerks an.
Was sagt die Aktion aus?
„Die Toten kommen“ soll anklagen und die Behörden unter Zugzwang setzen. Das Bundesinnenministerium wird als direkt verantwortlich für die Abschottungspolitik und damit den Tod der Menschen geschildert. Einen kalten Grusel verursacht die Aktion dadurch, dass die Verstorbenen als Handelnde dargestellt werden – sie „kommen“ selbst und werden nicht gebracht.
Wie ist der Umgang mit Toten geregelt?
Es gilt das Berliner Bestattungsgesetz. „Wer mit Leichen umgeht, hat dabei die gebotene Ehrfurcht vor dem toten Menschen zu bewahren“. Leichen dürfen nur mit Leichenwagen befördert werden. Aufgebahrt werden dürfen sie nur an Orten, die das Bezirksamt dafür zulässt. Sie öffentlich auszustellen, ist verboten. Zudem besteht eine Bestattungspflicht, der grundsätzlich die Angehörigen nachzukommen haben. Tun sie dies nicht oder nicht rechtzeitig, übernimmt das Bezirksamt die Kosten.
Wo dürfen Tote bestattet werden?
Egal ob im Sarg oder der Urne: Bestattungen dürfen nur auf Friedhöfen vorgenommen werden. Grundsätzlich auch erst, wenn die Personalien festgestellt sind. Handelt es sich um die Leiche eines Unbekannten oder gibt es Anzeichen dafür, dass es kein natürlicher Tod war, muss die Staatsanwaltschaft die Bestattung genehmigen.
Wird mit der Aktion die Totenruhe gestört?
Unter welchen Umständen die Leichen im Ausland exhumiert worden sind, ist nicht verlässlich feststellbar. Nach deutschem Recht aber gilt: Wer einen toten Körper aus „dem Gewahrsam des Berechtigten wegnimmt“, wird mit Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Geschützt werden soll damit das Pietätsgefühl von Angehörigen, aber auch – wenngleich postmortal – die Menschenwürde des Verstorbenen. Das „Gewahrsam“ an dem Toten hat der Inhaber der Grabstelle, bei öffentlichen Friedhöfen auch die Friedhofsverwaltung.
Wie reagiert die Öffentlichkeit?
Gespalten. Es gibt Verständnis für das Anliegen der Gruppe, zugleich wird ihre Methode kritisiert. Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Volker Beck nannte die Aktion in der „taz“ „befremdlich und pietätlos“. Linkspartei-Chefin Katja Kipping findet sie „hart an der Grenze“. Andererseits blieben die Künstler „an den berührenden Themen dran“. Menschenrechts- und Flüchtlingshilfsorganisationen wie Pro Asyl wollten sich, vom Tagesspiegel befragt, nicht äußern. "Die Aktion zielt darauf ab, die breite Öffentlichkeit auf das Schicksal von Millionen von Menschen aufmerksam zu machen, die in Europa Schutz suchen", sagte die Generalsekretärin von Amnesty Deutschland, Selmin Çalıskan. " Mit ihrer Tatenlosigkeit angesichts der aktuellen Flüchtlingskatastrophe hat die internationale Gemeinschaft Millionen Menschen zu einem Leben in Elend und Tausende zum Tode verdammt. Europa muss endlich legale und sichere Zugangswege für Flüchtlinge schaffen und deutlich mehr Flüchtlinge aufnehmen. Es bleibt zu hoffen, dass diese dringliche Botschaft bei den verantwortlichen Politiker ankommt."
Ist die Aktion moralisch anstößig?
Solange die Identität der Toten geklärt ist, etwaige noch lebende Angehörige einverstanden sind und bei der Exhumierung die örtlichen Gesetze beachtet werden, wohl nicht. Ein anderes Problem wäre es, wenn die Toten als Anonyme für politische Demonstrationsabsichten benutzt würden. Dies verstieße wohl auch gegen ihr postmortales Persönlichkeitsrecht.