Wie Juden heute Deutschland erleben: „Wir müssen uns einsetzen für die Rechte anderer“
Wie denken hier lebende Juden über Deutschland? Überlegungen zu Rechtspopulismus, den Werten der Demokratie und dem Vertrauen in den Rechtsstaat.
„Wir müssen den tragischen Teil unserer Geschichte bewahren“
Ich bin in Kiew geboren und aufgewachsen. 2008 bin ich nach Deutschland gekommen, zum Studieren. Deutschland war für mich auch ein Ort der Geburt des liberalen Judentums. Von den Gedenkveranstaltungen zum 9. November wussten wir zunächst nichts. Darüber wurde in der Schule während der Sowjetzeit nicht gesprochen. Nicht mal über Babyn Jar, wo 1941 mehr als 33 000 Juden ermordet worden waren. Dort steht ein Monument, aber als Schüler haben wir nur gelernt, dass es ein Denkmal für Kriegsopfer ist.
Hier habe ich die Geschichte der deutschen Juden kennengelernt. Das erste Mal, als ich zur Gedenkzeremonie in der Fasanenstraße war, wo die Namen der ermordeten Juden verlesen wurden, habe ich verstanden, in welchem Land ich jetzt lebte. Es gibt unterschiedliche Wege der Erinnerung an den Holocaust, aber wir müssen diesen tragischen Teil unserer Geschichte bewahren.
Ich denke schon, dass der Antisemitismus zunimmt. Als Rabbinerin betreue ich drei Gemeinden in Nordrhein-Westfalen, und ich kenne viele Menschen, die fürchten, dass der Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft wächst. Als ich nach Deutschland kam, diskutierte man die Frage, wie lange noch Polizisten vor einer Synagoge stehen müssten. Heute sind wir dankbar, dass die Polizei dort ist.
Leider ziehen populistische Ideen heute viele Menschen an. Ob das Antisemitismus ist oder „nur“ Rassismus? Juden waren immer vorsichtig mit solchen Definitionen. Die Frage ist: „Wer ist der Erste, und wer ist der Nächste?“ Die neuen populistischen Parteien deklarieren sich als judenfreundlich, dabei sind sie antisemitisch in ihren Ausdrücken. Für Juden ist es auch kein Trost, dass sich die rechtspopulistischen Parteien gegen Muslime wenden. Klar ist: Es geht gegen Menschen, die vielleicht anders aussehen, eine andere Religion und andere Bräuche haben.
Viele Flüchtlinge haben früher nie etwas Positives über Israel gehört, und viele sind mit der Vorstellung gekommen, dass die Juden ihre Feinde sind. Die Frage ist, wie der Staat und wir selbst damit umgehen. Aber auch ohne das Flüchtlingsthema haben wir es nicht geschafft, den Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft zu bewältigen. Viele Juden sind nach Deutschland gekommen, weil sie in einer Demokratie leben wollten. Auch aus dem Grunde, dass sie hier keine Ängste haben müssen, um ihre Identität leben zu können. Die Frage ist, ob wir angesichts des wachsenden Zuspruchs für populistische Parteien nicht zu naiv sind. Es ist egal, ob ein jüdisches Restaurant angegriffen wird oder ein türkisches. Wir haben Sensoren für solche Ereignisse, wir tragen das in unseren Genen.
Natalia Verzhbovska (50) studierte Jüdische Theologie in Potsdam. Sie betreut als Rabbinerin drei Gemeinden in Nordrhein-Westfalen.„Rassistische Strömungen müssen wir im Keim ersticken“
Geboren bin ich in Brasilien, seit vier Jahren lebe ich in Deutschland. Meine Familie war damals rechtzeitig geflohen, manche nach Israel, in die USA oder eben nach Brasilien. Ich bin sehr dankbar dafür, dass das Land meine Familie aufgenommen hat.
Bei der ehemaligen Synagoge in Potsdam war ich mal bei einer Gedenkfeier anlässlich der Pogromnacht 1938. Dass man am 9. November der Pogromnacht gedenken sollte, ist eine Selbstverständlichkeit, genauso wie wir den Fall der Mauer am selben Tag selbstverständlich feiern sollten. Beides gehört zum allgemeinen Gedächtnis des Landes. Geschichtsbewusstsein ist wichtig für die Zukunft.
Es gibt eine allgemeine Hysterie, dass aufgrund der Vorfälle in Chemnitz jetzt Gefahr droht, dass Deutschland rassistisch wird. Es ist unakzeptabel, dass ein jüdisches Restaurant attackiert wird, genauso wie ein Angriff von kapitalismuskritischen Linksradikalen auf ein Luxuslokal. In beiden Fällen muss der Rechtsstaat eingreifen.
Natürlich entsteht Angst bei solchen Angriffen, aber es hängt von der Sozialisierung ab, wie stark die ist. Ich bin in Brasilien aufgewachsen. Da hat man manchmal Angst, auf die Straße zu gehen – nicht weil man Jude ist, sondern weil man fürchtet, attackiert zu werden, weil jemand die Pistole zückt und Geld will. Da ist es egal, ob ich eine Kippa trage oder nicht.
Ich trage keine Kippa, denn es ist ein Zeichen von Religiosität. Und ich möchte keine tragen, bloß um zu überprüfen, ob man hier Angst haben muss. Aber es ist lächerlich, dass Menschen immer noch Angst haben müssen, eine Kippa zu tragen. Dass manche Menschen denken, Juden hätten kein Recht zu leben, wird man wohl nicht ändern können. Diese Leute kann man nicht mit Argumenten überzeugen. Da muss der Rechtsstaat handeln.
Ich bin fest davon überzeugt, dass Deutschland sehr sicher ist und sehr gut funktioniert. Man lebt hier in einer sehr komfortablen Situation. Rassistische Strömungen müssen wir im Keim ersticken. Wie wir das machen, ist eine Frage der Politik.
Yan Wissmann (26), in Belo Horizonte geboren und aufgewachsen. Er studiert Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin.
„Es gibt eine Pflicht, weiterhin zu erinnern“
Der 9. November war der Auslöser des Holocaust. In dieser Nacht ist vielen in der Bevölkerung bewusst geworden, was da im Gange ist. Juden waren ja zuvor schon durch Gesetze eingeschränkt, aber in dieser Nacht wurde alles ein ganzes Stück spürbarer. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn einfach der Laden oder das Haus zerstört werden und der gesamte Besitz weggenommen wird. Heutzutage wird der Antisemitismus oft mit Israel-Kritik vermischt. Man muss unterscheiden, ob es ganz klar judenfeindlich ist, also gegen die Juden als Volk gerichtet ist, oder gegen die Religion. Darunter würden ja die Angriffe auf das israelische Restaurant in Chemnitz oder auch in Berlin fallen. Woran liegt das? Vielleicht, weil die Erinnerungskultur vernachlässigt wird oder weil junge Leute heute kein Bewusstsein mehr haben für die Schoah. Es gibt aber eine Pflicht, weiterhin zu erinnern.
Es wird nicht genug aufgeklärt über das Judentum, das jüdische Volk und über den Staat Israel. Das darf nicht nur auf den Holocaust reduziert werden. Wir hatten mal einen Schulausflug in eine KZ-Gedenkstätte im Elsass, das war mir eher unangenehm, weil meine Mitschüler sich so komisch verhalten haben. Sie haben die ganze Zeit beobachtet, wie ich reagiere.
In der Pogromnacht haben viele Menschen einfach zugeschaut, was man den Juden angetan hat. Das darf sich nie wiederholen. Man muss sich aktiv einsetzen für die Rechte der Mitmenschen, das ist die Pflicht in der Demokratie. Und es ist egal, ob es sich um ein jüdisches oder ein muslimisches Restaurant handelt.
Ich habe ein ELES-Stipendium. Wir sind 300 jüdische Stipendiaten, und jeder lebt das Judentum anders aus. Ich bin in einem orthodox orientierten Haushalt aufgewachsen, wir haben immer den Schabbat eingehalten und alle Regeln der Feiertage geachtet. Ich esse auch koscher. Aber das machen nur die wenigsten jungen Juden in Deutschland.
Alissa Frenkel (22) ist in Frankreich aufgewachsen. Seit 2014 lebt sie in Deutschland und hat an der Uni in Freiburg ihren Abschluss in Geschichte und Politologie gemacht.
Protokolliert von Hella Kaiser.
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