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Wachsam. Ein Soldat patrouilliert auf der Grand Place in Brüssel.
© dpa

IS-Terror: Das zerstörte Vertrauen

Der Terrorismus untergräbt die Zivilgesellschaft. Was früher als Kollateralschaden des Kriegs galt, ist jetzt Ziel der Anschläge: die totale Verunsicherung. Sagt der Soziologe Armin Nassehi

Die Pariser Anschläge am Freitag, den 13. November, werden in vielen Kommentaren als „neue Art des Krieges“ definiert, als jener asymmetrische Krieg, dessen widerstreitende Subjekte nicht mehr Staaten im engeren Sinne sind. Die Asymmetrie dieses Krieges besteht freilich nicht nur darin, dass sich hier ein Staat durch nicht staatliche Akteure herausgefordert sieht. Sie besteht darin, dass der Adressat dieses Krieges nicht der Machtbereich eines Staates ist, sondern eine Lebensform.

Wandten sich frühere Anschläge gegen Militärs oder gegen die Zwillingsturmsymbolik des globalen Kapitalismus, gelten sie nun der liberalen Presse, dem Recht auf Selbstironie, auf plurale Meinungen, auf das Aushalten von Widerspruch, selbst auf Geschmacklosigkeiten. „Charlie Hebdo“ war ein gut ausgewähltes Ziel – ein Fußballspiel, das im November wohl das eigentliche Ziel war, oder ein Rockkonzert sind es ebenso. Es geht nicht um Hegemonien oder die Herstellung globaler Gerechtigkeit, es geht tatsächlich um den Hass auf die westliche Zivilisation.

Der neue Terrorismus zielt auf anonyme Tote

Dieser Terrorismus hat, anders als etwa der Linksterrorismus der 70er Jahre, keine konkreten Opfer im Blick. Er interessiert sich nicht dafür, wer hingerichtet wird, sondern dafür, ein komplexes System zu destabilisieren. Moderne Gesellschaften sind verschachtelte Systeme, die darauf angewiesen sind, dass ihre Akteure sich selbst wechselseitig koordinieren. Ihre Komplexität ist durch die starken Vernetzungen und Interdependenzen einerseits sehr störanfällig. Andererseits bilden sich Vertrauensräume, in denen man auf direkte Kontrolle und Herrschaft verzichten kann, weil die Menschen ihre Handlungen koordinieren, obwohl sie einander nicht kennen. Sie folgen einer Lebensform, die vor allem daran interessiert ist, dass es weitergeht. Zusammengehalten wird dieses lose Geflecht dadurch, dass jeder dem Anderen einen Willen zum Leben unterstellt. In ihm erkennt er sich selbst, gerade weil er nicht allzu viel in ihn hineindenken muss.

Der Andere ist allen Anderen ähnlich, weil die Anforderungen an das Gemeinsame recht gering sind. Dass unter den Menschenrechten das Recht auf Leben das höchste Recht ist, hat damit zu tun: Es reicht aus, um dem Anderen nicht zu nahe zu treten, und ermöglicht die Formenvielfalt dieser Gesellschaft, der man soziale Kälte oder Gleichgültigkeit nur unterstellen sollte, wenn man die soziale Wärme und die Sinnzumutungen einer stark integrierten Gesellschaft wirklich will, in der alle Brüder und Schwestern sind.

Der Gegner will nicht leben

Das Töten hinterlässt die deutlichste Spur des Terrors. Der Krieg bestand zunächst aus der organisierten Tötung des Kombattanten, der seinerseits zum Töten da war. Verluste in der Zivilbevölkerung galten als Kollateralschäden – oder als terroristische Formen der Kriegführung, deren Ziel vor allem Angst oder die Zerstörung von Loyalitäten war. Der Terrorismus hat den Kollateralschaden dann zum Hauptschaden erhoben. Wollte die RAF in ihrem unterkomplexen Wahn, die Verantwortlichen wirklich zu kennen, noch die Schaltstellen ausschalten, zielt der heutige Terrorismus auf anonyme Tote. Waren es zuvor Leute, die man prinzipiell geschützt hat, trifft es nun diejenigen, deren Lebensform sich geradezu dadurch auszeichnet, dass sie nicht geschützt werden können und wollen. Dass wir uns im Alltag an Regeln halten, setzt Reziprozität voraus. Wir gehen davon aus, dass andere sich auch an Regeln halten. Sonst könnten wir weder über eine grüne Ampel fahren noch die Wohnung verlassen.

Getroffen. Pariser gedenken der Opfer der Anschläge vom 13. November
Getroffen. Pariser gedenken der Opfer der Anschläge vom 13. November
© dpa

Dagegen opponiert der Terrorismus. Er stellt mit einigen wenigen Mitteln die zivilisatorische Sicherheit infrage. Die Angst vor dem Terrorismus wird zu einer Angst, die keine Adresse hat, weil auch der Terrorismus keine Adresse hat. Der Terrorist nutzt das zivilisatorische Vertrauen in den Anderen, um es zu zerstören. Gegen die daraus resultierende Angst gibt es kaum Gegenmittel – außer vielleicht den Trotz, das Vertrauen in die Anderen nicht zu verlieren. In Frankreich ist derzeit das Ausgehen die erste Bürgerpflicht. Wir sollten es den Franzosen gleichtun!

Die Anschläge vom Januar und vom November weisen freilich noch ein anderes Charakteristikum auf: Der Gegner will gar nicht leben. Manche mögen diese Entschlossenheit für etwas Attraktives halten, weil sie so unbedingt daherkommt, so kompromisslos, so authentisch. Sie ist deshalb so bedrohlich, weil sie die zivilisatorische Augenhöhe zwischen Tätern und Opfern aufkündigt, weil sie selbst nicht das will, was das Zusammenleben der Anderen geradezu ausmacht: leben zu wollen und leben zu lassen. Der islamistische Terrorist verwirkt jene anthropologische Unterstellung, die im modernen komplexen Alltag vorausgesetzt wird. Ich will nicht so weit gehen, dies für weniger menschlich zu halten, aber es ist zumindest ein Hinweis darauf, dass auch anthropologische Selbstverständlichkeiten historisch variabel sind. „Normale“ Kriminalität setzt viel Energie auf das Danach, darauf, nicht erkannt und nicht gefasst zu werden. Dieser Mechanismus fällt hier aus.

Vielleicht wären wir besser aktive Einwanderungsländer geworden

Die Scheidelinie zwischen Zivilisation und Barbarei liegt dort, wo Menschen zwischen sich selbst und ihrer Umwelt, zwischen ihren Überzeugungen und sozialen Erwartungen unterscheiden können. Wem das ganze Leben mit einer Sache verschmilzt, für wen die ganze Existenz in einem Fantasma alternativloser Überzeugungen aufgeht, der befindet sich auf einem anderen zivilisatorischen Level und ist deshalb für alle Kritik und Überzeugung unerreichbar, die moderne Lebensformen ausmacht.

Jürgen Habermas hat das einmal in der treffenden Wendung zum Ausdruck gebracht, dass rationale Lebenswelten sich dadurch auszeichnen, dass Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit nicht verschmelzen, sondern voneinander unterschieden werden. Erst unter diesen Voraussetzungen sind Lebensformen möglich, die nicht in den Sog solcher Totalitäten geraten, die den Willen zum Leben verzehren. Wir müssen uns fragen, unter welchen Bedingungen junge Leute auch in unseren Breitengraden solche Verschmelzungen erleben – und ob manche Mentalitäten nicht erst durch westliche Interventionen möglich wurden. Vielleicht wären wir doch besser früher aktive Einwanderungsländer geworden, die sich um solche Fragen nicht erst kümmern, wenn es zu spät ist.

Der Kampf zwischen Zivilisation und Barbarei findet übrigens jenseits von kulturellen Differenzen statt. Die meisten Opfer des islamistischen Terrors sind Muslime. Der Anschlag des IS in Beirut vom 12. November hat den gleichen Charakter wie der einen Tag später in Paris. Der neue Krieg ist zwar asymmetrisch, die Form der Bedrohung aber ist in der Levante und in Europa ziemlich symmetrisch gebaut. Und wer die Flüchtlingsfrage gegen den Terror von Paris ausspielen will, hat nichts begriffen.

Mancher Ton „klammheimlicher Freude“ hört sich an, als wären die Anschläge ein Geschenk des Himmels, weil sie doch zeigen, dass man es schon immer gewusst haben konnte. Vielleicht lehrt uns das geografisch und politisch nähere Paris aber besser als Beirut, dass die Flüchtlinge diesen Terrorismus nicht mit sich bringen, sondern vor ihm fliehen. Denn wer hier im Westen Anschläge organisiert, ist entweder hier aufgewachsen oder er wird die Einreise auch ohne Fluchthilfe schaffen.

Armin Nassehi lehrt Soziologie an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität. Er ist Herausgeber des „Kursbuchs“. Im Murmann Verlag veröffentlichte der Autor zuletzt „Die letzte Stunde der Wahrheit. Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss“.

Armin Nassehi

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