Treffen der Außenminister in Brest: Die EU riskiert einen Wirtschaftskrieg mit China
Brüssel will kollektive Sanktionen verhängen, wenn ein EU-Land von außen bestraft wird. Peking hat allen Grund, Angela Merkel zu vermissen. Eine Analyse.
Peking hat allen Grund, Angela Merkel und ihren mäßigenden Einfluss zu vermissen. Ihr Abgang war eine Zäsur nicht nur für die Chinapolitik Deutschlands, sondern für die der EU insgesamt. Das zeigt sich am zweiten Tag des Treffens der EU-Außenminister in Brest.
Sie wollen sich nicht mehr auseinanderdividieren lassen und riskieren einen Wirtschaftskrieg mit China. Wird ein Land mit Wirtschaftssanktionen drangsaliert, wollen alle 27 das künftig als Angriff auf den Binnenmarkt verstehen und mit Gegensanktionen der ganzen EU reagieren.
Anlass sind Chinas umfassende Strafen gegen Litauen. Die baltische Republik hat die Kooperation mit Peking reduziert und die Zusammenarbeit mit dem demokratischen Taiwan verstärkt.
Litauen ging dabei weiter als andere EU-Staaten: Es erlaubte Taiwan, eine Vertretung unter seinem Landesnamen zu eröffnen. Peking sieht darin einen Tabubruch und Verstoß gegen die Ein-China-Politik. Anderswo firmieren die Vertretungen unter dem Namen der Hauptstadt Taipeh. Im Konflikt um Taiwan reagiert Peking meist überhart.
Der Mechanismus wäre ein Gamechanger für die gemeinsame Außenpolitik
Mit den kollektiven Gegensanktionen betreten die EU-Außenminister Neuland. Am Vortag hatten sie im Konflikt mit Russland um die Ukraine militärische Schritte beschlossen, freilich auf niedrigem Niveau: Die EU wird ukrainische Offiziere zur Abwehr von Cyber-Angriffen ausbilden.
Die gemeinschaftlichen Sanktionen der EU gegen China sind von anderem Kaliber. Es wäre ein „Gamechanger“, falls sie zum Regelfall werden, sobald ein Drittland ein einzelnes EU-Mitglied mit Sanktionen belegt. Ein entsprechender Gesetzentwurf liegt in Brüssel vor.
Erhält die Kommission dieses Instrument, ist sie nicht mehr vom Konsens aller 27 Mitglieder im Einzelfall abhängig. Damit würde die gemeinsame Außenpolitik einen Schub erhalten. Bisher konnte China einzelne EU-Staaten zu finden, die aus Rücksicht auf den bilateralen Handel Gegensanktionen der EU verhinderten.
China versucht deutsche Konzerne für sich einzuspannen
Die neue Konfliktbereitschaft speist sich aus dem Erschrecken darüber, dass Großmächte wie China und Russland die EU als schwach und handlungsunfähig betrachten – und wie offen sie das zeigen. Peking verhängte Sanktionen gegen Litauen und ließ litauische Waren nicht mehr ins Land. Es übte zudem Druck auf deutsche und europäische Konzerne aus, ihre Kooperation mit Litauen zu beenden, wenn sie weiter den chinesischen Markt beliefern wollen. Peking habe „völlig überzogen“, schimpfen EU-Vertreter.
Ein Beispiel dafür ist der hessische Reifenhersteller Continental, der Komponenten aus Litauen bezieht. „Wir können es nicht hinnehmen, dass China deutschen Firmen diktiert, wer ihre Zulieferer sein dürfen“, sagt der hessische Europaabgeordnete Michael Gahler (CDU). Er spricht von „wirtschaftlicher Nötigung“.
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Den Begriff „economic coercion“ verwenden auch die EU-Außenminister in Brest. Und er steht im Gesetzentwurf als Auslöser, wann die EU gemeinsame Sanktionen verhängen soll.
Viele europäische Konzerne haben Kooperationspartner in Litauen. Pekings Kalkül, sie würden Druck auf ihre nationalen Regierungen ausüben, damit die keine Solidarität mit Litauen zeigen, ist nicht aufgegangen. Vielmehr wächst die Empörung in der EU über Chinas Vorgehen.
Litauen verschwindet aus Pekings Zolldokumenten
In Chinas Zolldokumenten taucht Litauen als Herkunftsland nicht mehr auf, beschwert sich Außenminister Gabrielius Landsbergis. Damit können Waren aus Litauen, aber auch Waren, die Komponenten „Made in Lithuania“ enthalten, nicht mehr eingeführt werden. Alles hänge nun davon ab, ob die EU rasche und effektive Solidarität mit Litauen zeigen, sagt Landsbergis. „Allein können wir dem Druck nicht standhalten.“
Frankreich, das die EU-Ratspräsidentschaft innehat, und Deutschland machen sich für die kollektive EU-Antwort stark. „Die gezielten Sanktionen gegen Litauen betrachten wir mit Sorge“, sagt Präsident Emmanuel Macron.
Die EU müsse „gegenüber autokratischen Akteuren wie Russland und China geschlossen auftreten“, betont Bundesaußenministerin Annalena Baerbock. „Es ist unsere Aufgabe, den Binnenmarkt gemeinsam zu verteidigen“, sagte die grüne Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium Franziska Brantner dem „Handelsblatt“.
In EU-Kreisen kursieren Vorschläge zur Entspannung des Konflikts. Aus Taiwans Vertretung in Wilna kann ein Taipeh-Büro werden. Waren und Zulieferungen „Made in Lithuania“ könnten das Label „Made in the EU“ tragen.
Solidarität der Demokratien gegen autoritäre Regime
Das Instrument der automatischen Gegensanktionen der ganzen EU aber hat durch den Konflikt an Befürwortern gewonnen. Demokratische Marktwirtschaften müssen sich gegenseitig stützen, wenn autoritäre Mächte sie einzeln angreifen, in der EU und über sie hinaus.
Das haben die saudischen Sanktionen gegen Kanada im Konflikt um den Blogger Badawi und Chinas Sanktionen gegen Australien, als es Aufklärung über die Ursprünge der Pandemie verlangte, gezeigt. Kollektive Gegensanktionen blieben aus.
Bei Pekings Strafen gegen Litauen wegen Taiwan ist das nun anders, weil es um ein EU-Mitglied geht und China die Gemeinschaft mit der unverhüllten Wette auf ihre Uneinigkeit herausfordert.