Gedenken in Berlin löst Eklat aus: Ukrainischer Botschafter weist Einladung von Michael Müller zurück
Der Regierende wollte mit Vertretern Russlands und der Ukraine an das Kriegsende erinnern. Für Kiews Botschafter wäre das der „schlimmste Albtraum“.
Drei Botschafter erhielten vor wenigen Wochen eine Einladung von Berlins Regierendem Bürgermeister Michael Müller (SPD). Gemeinsam mit den Vertretern Russlands, der Ukraine sowie von Belarus wollte er an diesem Samstag zum Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkrieges einen Kranz niederlegen, und zwar nicht an einem der großen Denkmäler der Stadt, sondern vor einem auf den ersten Blick unscheinbaren Wohnhaus am Schulenburgring in Berlin-Tempelhof.
In der Erdgeschosswohnung dieses Hauses befand sich in den letzten Kriegstagen der Kommandostab der sowjetischen 8. Gardearmee. Am 2. Mai 1945 unterzeichnete der deutsche General Helmuth Weidling dort den Befehl zur Kapitulation der Truppen, die bis zuletzt in Berlin gekämpft hatten. Damit war der Krieg für die Hauptstadt zu Ende.
Müller wollte mit den Diplomaten die Kämpfer der Roten Armee würdigen
An den 75. Jahrestag dieses historischen Ereignisses wollte Müller gemeinsam mit den drei Diplomaten erinnern, deren Staaten früher zur Sowjetunion gehört hatten. „Im Vordergrund der Veranstaltung steht die Würdigung vor allem der russischen, ukrainischen und weißrussischen Kämpfer der Roten Armee, die Berlin eingenommen haben“, sagte die Sprecherin des Regierenden Bürgermeisters auf Anfrage.
Doch dass die Einladung bei einem der Empfänger Irritationen auslösen könnte, war der Senatskanzlei bei der Planung offenbar entgangen. Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk sagte seine Teilnahme ab. Er wisse die Einladung des Regierenden Bürgermeisters zu schätzen, sagte Melnyk dem Tagesspiegel. „Damit wird der unbestrittene Beitrag des ukrainischen Volkes zur Befreiung Europas von der NS-Gewaltherrschaft anerkannt.“
In der Roten Armee hatten sechs Millionen Ukrainer gekämpft, jeder zweite von ihnen erlebte das Ende des Krieges nicht. Die vollständig besetzte Ukraine war einer der Hauptschauplätze des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges. Mehr als fünf Millionen ukrainische Zivilisten wurden von den Deutschen ermordet. Doch in der deutschen öffentlichen Debatte werden die sowjetischen Opfer oft mit russischen gleichgesetzt.
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Das Gedenken an die Opfer des Vernichtungskrieges sei für ihn eine moralische Verpflichtung, betonte der Botschafter. Dennoch müsse er der Gedenkfeier am 2. Mai fernbleiben. „Nicht einmal im schlimmsten Albtraum könnte ich mir vorstellen, Kränze niederzulegen an der Seite eines Vertreters des Landes, das seit über sechs Jahren zynisch einen blutigen Krieg in der Ostukraine führt“, sagte Melnyk. „Bis heute wurden über 14.000 Ukrainer im Laufe der immer noch andauernden russischen Aggression umgebracht. Jeden Tag und jede Nacht werden meine Landsleute verwundet und getötet.“
Deswegen bat der Botschafter den Regierenden Bürgermeister in einem Brief um Verständnis, dass er die Einladung nicht annehmen könne.
Wegen des Krieges im Donbass gab es in Berlin schon seit fünf Jahren keine Gedenkveranstaltung, auf der die Botschafter Russlands und der Ukraine gemeinsam aufgetreten wären. Russland feiert den Tag des Sieges am 9. Mai, in Berlin findet das Fest traditionell am Sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park statt. Dagegen lädt die ukrainische Botschaft seit 2015 bereits am 8. Mai Repräsentanten von Staat und Gesellschaft zu einer Kranzniederlegung am Sowjetischen Ehrenmal im Tiergarten. An diesem Datum erinnern Europäer und Amerikaner an das Ende des Krieges.
„Wir würden uns mehr Fingerspitzengefühl wünschen“
„Russland hat die Halbinsel Krim völkerrechtswidrig annektiert und große Teile des Donbass okkupiert“, sagte der Botschafter. Die „aggressive Politik des Kremlherrn“ habe eine nie dagewesene Entfremdung zwischen Ukrainern und Russen verursacht. „Daher ist auch ein gemeinsames Gedenken undenkbar.“ Es sei „schade, dass der Regierende Bürgermeister diese haarsträubenden Tatsachen anscheinend übersieht“, sagte Melnyk. „Wir Ukrainer würden uns mehr Fingerspitzengefühl und Empathie wünschen.“
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75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sieht der Diplomat „weiße Flecken“ in der deutschen Erinnerungskultur, besonders mit Blick auf Hitlers Vernichtungskrieg in der Ukraine. Es sei „beschämend“, dass es in Berlin bis heute kein Denkmal für die ukrainischen NS-Opfer gebe. Auch das Wissen um diese Opfer komme in der deutschen Öffentlichkeit zu kurz. „Daher appelliere ich an den Bundestag und den Berliner Senat, ein Mahnmal für die ukrainischen NS-Opfer an prominenter Stelle im Zentrum der Bundeshauptstadt sowie eine dazugehörige Informationsstelle zu errichten.“
Die Deutsch-Ukrainische Historikerkommission hatte im vergangenen Jahr die Initiative für ein Berliner Denkmal zur Erinnerung an die polnischen NS-Opfer begrüßt und sich dafür ausgesprochen, „dass das Denkmalsprojekt auch die Ukraine und Weißrussland integriert“. Die Historiker gaben zu bedenken, dass ein Dokumentationszentrum vielleicht besser als ein Mahnmal der Aufklärung dienen und das Gedenken an andere Opfergruppen in Mittel- und Osteuropa einschließen könnte.