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Ich sag's euch. Angela Merkel bei der Pressekonferenz in Brüssel im Juni 2018.
© dpa

EU-Gipfel in Salzburg: Die deutsche Überheblichkeit muss aufhören

Deutschland sieht sich in Europa gern als Verfechter des Guten, Humanen und Richtigen. Allerdings ohne die anderen Europäer nach ihrer Meinung zu fragen. Das schafft Frust. Ein Gastbeitrag.

Deutschland ist zu groß, um sich raushalten zu können. Weder bei der Stabilisierung der Währungsunion noch bei der Bekämpfung sozialer Ungleichheit, weder bei der Wettbewerbsfähigkeit Europas noch in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik kann Deutschland einfach abwarten. Es wird lernen müssen, seiner Rolle auf eine neue Art gerecht zu werden. Sind wir darauf vorbereitet? Offenbar nur unzureichend.

Nun werden viele einwenden, dass Deutschland in den letzten Jahren doch viel Verantwortung übernommen habe und neben seiner Rolle als wirtschaftliche Führungsnation längst auch die politische Führungsposition behaupte. Dieser Einwand mag bezüglich der Wirtschafts- und Finanzpolitik berechtigt sein. Die deutsche Haltung ist glasklar und unnachgiebig, wenn es um Bewahrung der wirtschaftlichen Dominanz geht. In der Außen- und Sicherheitspolitik dagegen scheinen wir hin und her gerissen zu sein. Wir Deutsche sind oft damit zufrieden, uns im Reich des Wünschbaren aufzuhalten. Wir fühlen uns dabei anderen überlegen, die im schnöden Hier und Jetzt verhaftet zu sein scheinen. 

Als Mitglied der Bundesregierung, als Vorsitzender der SPD und als Vertreter Deutschlands auf internationalem Feld habe ich erlebt: Unsere Nachbarn nehmen ein Deutschland wahr, das so sehr an seine gute Mission glaubt, dass es dabei die anderen um sich herum nicht mehr versteht, ja sogar missachtet und auf sie herabschaut. Ich nenne mit Energiewende, Freihandelsabkommen und Flüchtlingskrise drei Beispiele, die meine Beobachtungen verdeutlichen.

Beispiel Energiewende

Nach Jahrzehnten einer harten und unversöhnlichen inneren Auseinandersetzung war sich Deutschland spätestens nach dem Reaktorunglück im japanischen Atomkraftwerk Fukushima 2011 einig, dass ein Ausstieg aus dieser Technologie bei gleichzeitigem verstärkten Ausbau erneuerbarer Energien unabdingbar geworden war. Die deutschen Nachbarländer haben damals völlig irritiert auf uns geblickt. Kurz vor dem Reaktorunglück hatte die Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Regierungskoalition von CDU/CSU und FDP nämlich verkündet, die alten Kernkraftwerke in Deutschland - entgegen den früheren Ausstiegsbeschlüssen der Regierung von SPD und Bündnis 90/Die Grünen unter Kanzler Gerhard Schröder - rückgängig machen zu wollen. Statt ab 2020 aus der Atomenergie zur Stromerzeugung auszusteigen, wollte die neue Regierung nun sogar auch die älteren Kernkraftwerke um zwölf bis vierzehn Jahre langer nutzen als geplant. Dann die plötzliche Kehrtwende innerhalb nur weniger Monate – wegen eines Reaktorunglücks im viele tausend Kilometer entfernten Japan.

In der Folge wuchsen natürlich die Treibhausgasmengen, die Deutschland aufgrund seines Ausstiegs aus der C02-freien Nukleartechnologie mit seinen Kohle- und Gaskraftwerken produzierte. Die in Europa vereinbarten Klimaziele, die in unserer nationalen Diskussion bereits als zu schwach kritisiert wurden, erforderten nach dem Ausstieg aus der Atomenergie nun noch dringlicher auch den Ausstieg aus der Stein- und Braunkohle zur Stromerzeugung und einen schnelleren Ausbau der erneuerbaren Energien. Spätestens jetzt wäre eine Diskussion über die deutsche Energiewende und ihre Konsequenzen für Europa dringend erforderlich gewesen. Doch gab es keinen Versuch, sich mit den europäischen Nachbarn über die Energiepolitik zu verständigen.

Die Entlastung der Wirtschaft von den Energiewendekosten war nach EU-Recht verboten

Zum einen bestand die Sorge, dass die anderen Europäer unangenehme Fragen und Anforderungen an Deutschland stellen wurden. Zum anderen wurde das europäische Recht schlicht über Jahre, vor allem in der Regierungsperiode von CDU/CSU und FDP zwischen 2009 und 2013 ignoriert, um die deutsche Wirtschaft von den Kosten zu befreien, die mit der Förderung der erneuerbaren Energien über die Abgaben an den Strompreis verbunden waren. Vieles davon war nach europäischem Wettbewerbsrecht schlicht eine verbotene staatliche Beihilfe für die deutsche Wirtschaft.

Das Hauptproblem aber war aber noch ein anderes: Weil es für einen schnellen Kapazitätsausbau aus Wind- und Sonnenenergie gar nicht genug Stromleitungen in Deutschland gab, wurde der Strom in die benachbarten Stromnetze europäischer Mitgliedsstaaten gedrückt. Der dort verfügbare und in Deutschland subventionierte Strom der erneuerbaren Energien zwang vor allem Polen dazu, die eigenen Kraftwerke herunterzufahren - mit entsprechenden negativen wirtschaftlichen Folgen beispielsweise für die polnische Energiewirtschaft.

Aber auch in Deutschland hatte die fehlende europäische Einbindung des Ausbaus erneuerbarer Energie teure Folgen: Die Stromkunden mussten und müssen auch heute noch oftmals ihren Strom aufgrund fehlender Leitungen zweimal bezahlen: einmal zum Preis an der Strombörse und ein zweites Mal über eine Umlage für den Fall, dass der Strom aufgrund fehlender Leitungen nicht geliefert werden konnte. Dann nämlich sprangen andere Kraftwerksbetreiber ein - natürlich gegen erneute Bezahlung.

Selbst alte österreichische Ölkraftwerke mit einem immensen Ausstoß von Treibhausgasen kamen so noch einmal ans Netz. Dass sie einmal die deutsche Energiewende und den deutschen „Klimaschutz“ absichern wurden, damit hatten die Betreiber in Österreich gewiss nicht gerechnet. Eine Milliarde Euro mussten allein die Stromkunden des Netzbetreibers Tennet 2017 auf diese Weise aufbringen. Erst in der letzten Legislaturperiode gelang es, diesen europäischen Fehlstart der deutschen Energiewende wieder gut zu machen. Das über Jahre gewachsene Ressentiment vor allem unserer osteuropäischen Nachbarn, dass wir Deutsche nicht etwa das Richtige, sondern vor allem das für uns Lohnende im Auge hatten, ist dabei leider nicht so schnell auszuräumen.

Beispiel Freihandelsabkommen

Fast die gesamte letzte Legislaturperiode stritt Deutschland - und hier vor allem die Sozialdemokratie, die Linkspartei, die Grünen, die Gewerkschaften, die Umwelt- und Verbraucherverbände und nicht zuletzt die Kirchen - über und vor allem gegen den Abschluss neuer Freihandelsabkommen. Im Mittelpunkt standen die Verhandlungen mit Kanada über das Wirtschafts- und Handelsabkommen CETA und mit den USA über das Transatlantische Freihandelsabkommen TTIP. 

Dagegen! Die Demonstrationen gegen den G7-Gipfel im Sommer 2015 standen unter dem Titel "TTIP stoppen, Klima retten, Armut bekämpfen".
Dagegen! Die Demonstrationen gegen den G7-Gipfel im Sommer 2015 standen unter dem Titel "TTIP stoppen, Klima retten, Armut bekämpfen".
© dpa

Ganz Europa schüttelte den Kopf ob unserer deutschen Unnachgiebigkeit und Härte, mit der die Gegner dieser Freihandelsabkommen diese Auseinandersetzung führten. Im Europäischen Rat der Wirtschafts- und Handelsminister ist mir die Bemerkung eines Ministerkollegen besonders in Erinnerung geblieben, die deutlich macht, wie sehr unsere Nachbarn auf unser Treiben mit wachsender Verärgerung reagierten: „Wenn ihr eurer Wirtschaft schaden wollt, dann ist das eure Sache. Ihr seid so reich, ihr könnt euch das vielleicht leisten. Wir nicht.“ Wo wir Deutschen dachten, wir wurden um das Gute und Richtige streiten, sahen unsere Nachbarn nur deutsche Egozentrik.

Heute können wir von Abmachung à la TTIP nur noch träumen

Angesichts der dramatischen Folgen einer nationalistischen und protektionistischen Handelspolitik der Regierung Trump sollten wir uns heute wünschen, wir hatten wenigstens einen Teil der mit Kanada vereinbarten Handelsbeziehungen auch mit den USA verbindlich regeln können. Erst jetzt wachst offenbar auch in Deutschland die Einsicht, dass ein so exportabhängiges Land wie unseres, in dem Millionen industrielle Arbeitsplätze vom Außenhandel abhängen, existenziell auf freien und geregelten Austausch von Gütern und Dienstleistungen angewiesen ist. Selbst wenn diese Regeln nicht perfekt sind, so zeigt uns Trump gerade, wie zerstörerisch es ist, wenn es diese nicht gibt.

Beispiel Flüchtlingspolitik

Das dritte und wohl einschneidendste Beispiel ist die Flüchtlingspolitik. Als die überwältigende Mehrheit der Deutschen im Herbst 2015 dachte, wir würden mit einer großen Geste unsere inzwischen erreichte Humanität unter Beweis stellen, fühlten sich die meisten anderen europäischen Mitgliedsstaaten von uns erpresst. Ich muss eingestehen, dass ich das damals auch nicht gesehen habe.

Als mich Angela Merkel am Freitag, dem 4. September 2015 gegen 21 Uhr anrief, sprachen wir von etwa vier- bis sechstausend Flüchtlingen, die seit Tagen unter unhaltbaren Zustanden auf dem Bahnhof der ungarischen Hauptstadt Budapest festsaßen. Nach geltendem europäischen Recht und der Genfer Flüchtlingskonvention hatte Ungarn diese Menschen aufnehmen und in einem geordneten rechtsstaatlichen Verfahren prüfen müssen, ob ein Anspruch auf Asyl als Verfolgte oder auf eine Duldung als Flüchtling vorlag.

Gemeinsam mit dem damaligen Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier stimmte ich dem Vorschlag der Kanzlerin zu, die Flüchtlinge aus Budapest nach Deutschland zu holen und die Verfahren hier zu betreiben. Die deutsche Bundeskanzlerin hatte zuvor auch mit ihrem österreichischen Amtskollegen Werner Faymann darüber gesprochen. Unmittelbar nach Bekanntgabe, die Flüchtlinge vom Budapester Bahnhof zu übernehmen, meldete sich der CSU-Vorsitzende und damalige bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer zu Wort und kritisierte die Entscheidung.  Auf Verlangen der CSU tagte dann am Sonntag, dem 6. September 2015, der Koalitionsausschuss von CDU, SPD und CSU im Bundeskanzleramt. Im Beschluss dieses Gremiums heißt es: „Die am Wochenende getroffene Aufnahmeentscheidung von Deutschland und Österreich soll eine Ausnahme bleiben.“ Der Rest ist bekannt: Dieser Beschluss erwies sich als pure Illusion.

Der Nachweis war erbracht: Die Deutschen sind gut

Aus den vier- bis sechstausend Flüchtlingen wurden im Verlaufe des Wochenendes bereits 20.000. Täglich strömten jetzt Tausende Menschen über die deutschen Grenzen. Unkontrolliert und ohne dass wir darauf in irgendeiner Weise vorbereitet gewesen waren. Die überbordende Hilfsbereitschaft in Deutschland war für viele von uns in der Regierung eine große Überraschung. Endlich konnten wir mit diesem unübersehbaren Beispiel unsere neue deutsche Mitmenschlichkeit und Hilfsbereitschaft beweisen. Es war das Gefühl, der Welt belegen zu können, dass von dem nationalistischen und unmenschlichen Deutschland nichts mehr übrig war. Für mich schien der Nachweis erbracht, dass nicht nur die Alliierten damals Nazi-Deutschland besiegten, sondern wir es auch selbst geschafft hatten.

So sehr, wie wir uns und unsere Moral feierten, so heftig schüttelten unsere Nachbarn den Kopf. Wir schienen erhebliche Sicherheitsrisiken in Kauf zu nehmen, wir ließen es vor allem an jeder Absprache mit unseren europäischen Nachbarn fehlen. Neben dem offiziellen Lob der Vertreterinnen und Vertreter europäischer Institutionen wuchs schnell die Kritik an unserem Handeln. Und spätestens seit der Idee, die zu uns strömenden Flüchtlinge in Europa nach Quoten in andere Lander zu verteilen, spaltete sich die Europäische Union wie nie zuvor.

Die anderen sagten: Ihr ladet Flüchtlinge ein, und wir sollen sie aufnehmen?

Was bei uns einem humanitären Impuls folgte, wurde in großen Teilen Europas als deutsche Arroganz verstanden. „Erst ladet ihr die Flüchtlinge ein, ohne uns zu fragen, und dann sollen wir sie euch abnehmen?“, so lautete der Vorwurf meiner europäischen Kollegen, wenn kein Mikrofon eingeschaltet war und keine Kamera lief. Schnell war klar: Nicht die „zurückgebliebenen und unmodernen“ Osteuropäer mit ihrer Weigerung der Flüchtlingsaufnahme brachten Europa Probleme, sondern wir Deutschen hatten das zu verantworten. Und auch wir selbst haben seitdem unsere äußere Liberalität mit dem Verlust innerer Liberalität bezahlt. Damals aber waren wir uns darüber nicht im Klaren. Unser Regierungshandeln erscheint eher intuitiv als politisch überlegt.

Meine drei Beispiele haben eins gemeinsam: Zum einen erschien uns Deutschen unser eigenes Handeln quasi interessenlos. Wir glaubten, wir handelten nicht, weil wir deutsche Interessen verfolgten, sondern in der Überzeugung, etwas für die Menschheit an sich zu tun. Für das Gute, Humane, das Richtige. Und wir meinten, im Interesse Europas zu handeln – allerdings ohne die Europäer, die das allerdings ganz anders sahen, nach ihrer Meinung zu fragen. Deutschland handelte nicht wie eine imperiale Macht, die sich über internationale Normen hinwegsetzt. Wir handelten als Staat, der überzeugt ist, das Richtige zu tun.

Die "Berliner Republik" muss den Bonner Blick wieder lernen

Zu Zeiten der „Bonner Republik“ war der Blick auf die europäischen Nachbarn immer einer auf Augenhohe – gerade auch gegenüber den kleineren Mitgliedsstaaten. Dass Deutschland vor allem wirtschaftlich Führungsaufgaben wahrzunehmen hatte, ergab sich fast zwangsläufig. Eine politische oder gar moralische Führung Europas hatte sich die „Bonner Republik“ nie angemaßt. Und selbst die ökonomische wurde eher mit unsichtbarer Hand vorangetrieben als lautstark und fordernd. Die „Berliner Republik“ muss diesen Bonner Blick wieder lernen.

Vielleicht ist es ganz gut, dass wir im aktuellen Handelsstreit mit den USA jetzt lernen, wie es sich anfühlt, schwach und auf die Solidarität anderer angewiesen zu sein.

- Sigmar Gabriel ist SPD-Politiker. Von 2013 bis 2018 war er Vizekanzler und von 2009 bis 2017 Vorsitzender der SPD. Der Text basiert auf seinem Buch "Zeitenwende in der Weltpolitik: Mehr Verantwortung in ungewissen Zeiten" (Herder Verlag), das er am Dienstag, 18. September, in Berlin vorstellt.

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