Deutschland und das Giftgas in Syrien: Die deutsche Debatte um den Syrien-Angriff ist beschämend
Der Angriff der USA und ihrer Verbündeten auf Giftgasanlagen in Syrien wird in Deutschland heftig diskutiert. Doch die Debatte ist ohne moralischen Kompass, antiamerikanisch, antieuropäisch und hysterisch. Ein Kommentar.
Deutschland sollte vielleicht doch nicht so schnell eine führende politische Rolle in Europa übernehmen. Die EU ist der größte Wirtschaftsblock der Welt und Deutschland sein einflussreichstes Mitglied. Aber ein Großteil seiner Eliten ist offenbar auch nach 70 Jahren kontinuierlicher Wiedereinbindung in den Westen nicht reif, Führung zu übernehmen. Das fällt ganz besonders auf, wenn man gerade aus Paris zurückkehrt und eine Woche hochrangiger Gespräche mit der außenpolitischen Elite der französischen Republik über die Zukunft der transatlantischen Partnerschaft hinter sich hat. Oder wenn man sich in Washington mit US-Außenpolitikern, die nicht zu den Anhängern Donald Trumps zählen, über Deutschlands künftige Rolle in der Welt unterhält.
Wer verteidigt die regelbasierte Ordnung?
In Paris denken die Eliten sehr verantwortungsbewusst darüber nach, wie man die liberale regelbasierte Ordnung, die ja auch eine Werteordnung ist, verteidigen kann. Und wie man strategisch mit den Regelbrechern von Russland bis China umgeht. Das gilt auch für die meisten Außenpolitik-Experten in den USA.
Im Vergleich wirken die deutschen Debatten um den vereinten Luftangriff Frankreichs, Großbritanniens und der USA auf Giftgas-Anlagen in Syrien beängstigend und beschämend. Ihnen fehlen der moralische Kompass und der strategische Weitblick. Sie sind offen antiamerikanisch, verdeckt antieuropäisch und antiwestlich sowie hysterisch in ihrer Beschwörung der Gefahr eines dritten Weltkriegs.
Der viergrößten Wirtschaftsmacht fehlt die Orientierung
Der moralische Kompass: Eigentlich dürfte es keine Frage sein, welche Partei man hier ergreift. Ein mörderischer Diktator setzt Giftgas ein, seine Schutzmacht Russland hat das nicht verhindert. Giftgas ist eine international geächtete Waffe. Deutschland sollte jedem dankbar sein, der dieses Minimum an Konsens in der Weltordnung verteidigt. Ganz selbstverständlich sollte Deutschland als viertgrößte Wirtschaftsmacht der Erde und Mitglied des westlichen Wertebündnisses verbal an der Seite Frankreichs, Großbritanniens und der USA stehen – aber nicht nur das; eigentlich sollte es gemeinsam mit den engsten Verbündeten handeln. Woher kommt die Orientierungslosigkeit? Die Selbstverständlichkeiten scheinen einem Gutteil der Eliten in Politik und Medien nicht klar zu sein.
Antiamerikanisch und antieuropäisch: Die Tonlage, in der US-Präsident Donald Trump für seinen Syrien-Kurs angegriffen wird, ist offen antiamerikanisch. Und zugleich verdeckt antieuropäisch. Der offene Antiamerikanismus ist natürlich viel verbreiteter in Deutschland als der Antieuropäismus. Deshalb wird Trump angegangen und mit herabwürdigenden Adjektiven versehen.
Wer Trump angreift, müsste auch Macron kritisieren. Das geschieht nicht
Man sollte freilich nicht vergessen, dass Emmanuel Macron in der Giftgas-Frage nicht anders denkt und handelt. Macron wird nicht offen angegriffen. Denn der gilt ja ansonsten als ein „Guter“ - ja geradezu als Held der deutschen Anhänger einer raschen Integration Europas. Diese Bewusstseinsspaltung ist nur ein neues Beispiel der rhetorischen Verrenkungen, mit denen manche Deutsche sich die Welt so zurechtschnitzen, wie es ihrem ideologischen Weltbild entspricht. In der Wirklichkeit stehen Macron und Trump in Syrien ganz eng beisammen. Es wäre redlich, jeden Kommentar zu Syrien so zu schreiben, dass man die Namen Trump und Macron austauschen kann – also auch keinen Satz über Trump zu formulieren, den die jeweilige Person nicht ebenso über Macron äußern würde.
Wer eine gemeinsame europäische Außen- und Verteidigungspolitik Europas möchte, wird an Macron nicht vorbeikommen. Wer ihm nicht mal in seiner Abwehr von Giftgaseinsätzen in Syrien folgen möchte, sollte alle Pläne vergessen, Europa handlungsfähiger zu machen. Es dürfte schwer fallen, ein anderes Land in der EU zu finden, in dem die öffentlichen Kommentare zum Angriff auf Syriens Giftgasanlagen ähnliche Verirrungen aufweisen wie in Deutschland (plus Österreich). In anderen EU-Staaten freut sich die große Mehrheit, dass jemand handelt. Deutschland ist hier der Geisterfahrer, nicht Trump oder Macron.
In Syrien droht kein Weltkrieg
Hysterische Beschwörung eines Weltkriegs: Das rhetorische Wettrüsten zwischen Wladimir Putin und Donald Trump ist gewiss verantwortungslos. Aber die Gefahr, dass sie handeln, wie sie reden, besteht nicht. Für beide hat die Innenpolitik Priorität. Dort wollen sie als starker Max wahrgenommen werden. Deshalb reden sie, wie sie reden. Die Innenpolitik begrenzt zugleich ihre Konfliktbereitschaft. Weder Trump noch Putin möchte sich eine Eskalation leisten, die Milliarden Dollar Steuergelder kostet und das Risiko erhöht, dass Soldaten in Särgen heimkehren. Das ist unter ihren Anhängern nicht populär.
Etwas schizophren finde ich die deutsche Reaktion. Auf der einen Seite will Frau Merkel sich nicht an der Aktion gegen Syrien beteiligen [...], auf der anderen Seite befürwortet sie die Militäraktion [...]. Andererseits muss man einem gemeinen Giftgasmörder natürlich Grenzen setzen.
schreibt NutzerIn provinzler
Die westliche Allianz hat Russland vorab über die Angriffsziele informiert und auch sonst alles getan, um eine direkte Konfrontation mit Moskaus Militär in Syrien zu vermeiden. Putin hat sich offenbar entschieden, seiner Drohung, US-Raketen auf Syrien abzuschießen, keine Taten folgen lassen. Eskalationsscheu ist das Eine. Russland hat nicht einmal ein Zehntel der Wirtschaftskraft der USA und könnte ein ernsthaftes Kräftemessen nicht durchhalten. Ein weiteres potenzielles Motiv: Vielleicht wollte Putin es nicht auf einen Test der russischen Luftabwehrsysteme ankommen lassen. Die sind nämlich ein Exportartikel und Devisenbringer. Wenn sie sich im Einsatz in Syrien als nicht sonderlich effektiv erweisen sollten, wäre das schädlich für russische Rüstungsexporte.
Im Kalten Krieg undenkbar: Dass Moskau Giftgas toleriert
Wenn man überhaupt Analogien zum Kalten Krieg bemühen möchte, sollte es diese sein: Damals wäre es undenkbar gewesen, dass Moskau so rücksichtslos handelt wie heute unter Putin und einem Verbündeten den Einsatz von Giftgas durchgehen lässt. Putin ist der Mann, der die Abreden, was geht und was nicht geht, in Frage stellt. Er bombardiert gemeinsam mit Assad Krankenhäuser und setzt Fassbomben ein. Im Westen lässt er Systemgegner ermorden. In der Ukraine bricht er die europäische Friedensordnung.
Putin ist der Übeltäter, nicht Trump. Was geht in Deutschen vor, die das Gegenteil behaupten: Trump sei gefährlicher als Putin? Was treibt Andrea Nahles zu der atemberaubenden Darstellung, der Konflikt sei durch Gespräche mit Putin zu lösen? Sie reden doch alle regelmäßig mit Putin: Trump, Macron, Merkel. Das Problem ist, dass all das Reden zu nichts geführt hat.
Putin lügt und betrügt. Wäre er ein ehrlicher Makler, hätte Syrien überhaupt keine Chemiewaffen mehr. Denn das war doch der Deal, als Barack Obama 2013 erst einen Giftgas-Einsatz zur „roten Linie“ erklärte, aber nicht eingriff, als Assad Giftgas einsetzte. Unter Vermittlung Putins gab Syrien damals angeblich alle seine Chemiewaffenvorräte auf. Sie wurden unter internationaler Aufsicht außer Landes gebracht und vernichtet – angeblich.
Notabene sind unter denen, die jetzt Trump dafür kritisieren, dass er intervenierte, ganz viele, die Obama 2013 dafür scholten, dass er nicht intervenierte. Sehr konsequent.
Das Völkerrecht ist blockiert
Bleiben die deutschen Einwände, der Angriff sei völkerrechtswidrig und es seien keine sinnvollen Ziele erkennbar, die mit der Intervention erreicht werden. Gewiss wäre es schön, wenn die UN und ihr Sicherheitsrat jeden Verstoß gegen das UN-Verbot, Chemiewaffen einzusetzen, ahnden würden. Doch Russland blockiert den Sicherheitsrat. Es stimmt schon, auch andere ständige Mitglieder haben ihr Veto missbraucht, wenn es um wichtige Interessen ging – aber doch nicht mit der Chuzpe, die Putin jetzt zeigt. Mit dem Giftanschlag auf die Skripals darf sich der Sicherheitsrat wegen des russischen Vetos nicht beschäftigen, zum Chemiewaffeneinsatz in Syrien darf er keine eindeutigen Resolutionen verabschieden. Aber wegen des Angriffs auf die Giftgasanlagen möchte Putin eine Sondersitzung einberufen. Das ist eine Farce. Soll sich der Westen dadurch davon abhalten lassen, UN-Prinzipien wie das Chemiewaffenverbot durchzusetzen?
Die deutsche Debatte um Erreichen oder Nicht-Erreichen der Ziele des Angriffs leidet darunter, dass über potenzielle Ziele spekuliert wird. Am besten hält man sich an das, was Trump und Macron sagen. Sie hatten ein einziges Ziel: das Prinzip des Chemiewaffenverbots zu verteidigen und Assad nach Möglichkeit von weiteren Giftgas-Einsätzen abzuschrecken. Es ging nicht um Regime-Wechsel, nicht um eine Veränderung der Machtverteilung am Boden. Was bezwecken also Hinweise, dass Assad durch die Intervention nicht gestürzt wurde und die Opposition jetzt nicht mehr Gebiete kontrolliert als zuvor? Das war doch gar nicht das Ziel.
Erfolg heißt: Assad von Giftgas-Einsätzen abzuschrecken
Der Maßstab müsse sein, ob der Angriff den Menschen in Syrien helfe, hat Malte Lehming geschrieben Nach diesem Maßstab wäre es ein Erfolg, wenn auch nur ein neuer Giftgas-Einsatz verhindert oder verzögert würde. Natürlich kann niemand mit Sicherheit vorhersagen, was in Assads Kopf hervorgeht. Aber jede und jeder kann ja für sich die Wahrscheinlichkeit überlegen: Wird er die Opposition weiter mit Giftgas terrorisieren, wenn der Preis, den er dafür zahlt, höher ist als der taktische Erfolg des Einsatzes des geächteten Kampfstoffes?
Die moralischen Verirrungen, die strategische Ignoranz und die logischen Brüche in der deutschen Syrien-Debatte der letzten Tage zeigen ein Land, das noch immer ein unsicherer Kantonist für seine engsten Partner ist. Und dessen Reife für eine Führungsrolle in Europa und der Welt trotz all seiner ökonomischen Erfolge weiter in Frage steht. Es wird ja nicht einmal die Frage diskutiert, welche Folgen die deutschen Eigenheiten für eine gemeinsame Europapolitik mit Macron und anderen EU-Partnern haben? Und für eine globale Kooperation für Trumps Nachfolger(in) im Weißen Haus?
Christoph von Marschall ist erster Helmut-Schmidt-Fellow der ZEIT-Stiftung und des German Marshall Fund of the United States (GMFUS) und arbeitet derzeit in Washington an einer Studie über die Zukunft der Transatlantischen Beziehungen. Er ist gerade zurück aus Paris, wo er mit der Präsidentenberatern und Diplomaten über Frankreichs Erwartungen an Deutschland gesprochen hat.
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Korrektur: In einer früheren Version war von einem Giftmord die Rede. Es handelte sich aber um einen Giftanschlag auf Ex-Spion Sergej Skripal und seine Tochter - beide sind noch am Leben.