Twitterhass, Populismus, Individualisierung: Die Demokratie ist nicht in der Krise, sie ist nur rauer geworden
Es stimmt nicht, dass die "goldene Zeit" im Zerfall endet, schrieb Paul Nolte vor vier Monaten. Aus aktuellem Anlass publizieren wir erneut seinen Gastbeitrag.
Paul Nolte ist ist Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin.
Die Demokratie ist in der Krise: Parteiensysteme zerbrechen, das Regieren wird immer schwieriger. Rechte Populisten werben, wie Viktor Orbán, offen für eine „illiberale“ Variante der Volksherrschaft. Hass statt Höflichkeit regiert das Netz, und statt seriöser Staatsmänner machen Clowns und Komiker Politik. Der globale Siegeszug der westlichen Demokratie ist gestoppt, nicht nur in der Türkei und in China. Die goldene Ära der Demokratie geht, bestenfalls, in eine graue Zeit des Autoritarismus über.
So lesen sich, in unzähligen Varianten, seit fast zehn Jahren die Diagnosen des Zustands und die Prognosen zur Zukunft der Demokratie. Es ist ermüdend geworden, sie immer wieder zu hören und zu lesen. Diese Ermüdung kommt aber nicht nur aus der steten Wiederholung, und nicht bloß aus einer gewissen demokratischen Melancholie, „von des Gedankens Blässe angekränkelt“, um es mit Hamlet zu sagen.
Da ist zugleich das irritierende Gefühl, dass diese Erzählung von einer goldenen Zeit, die in Krise und Zerfall führt, so nicht stimmen kann. Der Vergleich mit der Zwischenkriegszeit stößt an Grenzen: Demokratische Staaten kippen nicht, wie um 1930, plötzlich in offene und gewaltsame Diktaturen um. Nicht nur in der Bundesrepublik ist die Demokratie ebenso quicklebendig wie stabil, in ihren Institutionen ebenso wie in ihrer breiten zivilgesellschaftlichen Verankerung.
Leitartikler gaben Meinungen vor
Und nimmt man die vermeintlich goldenen Zeiten näher unter die Lupe, kommen so manche schmutzigen Stellen zum Vorschein. Nicht nur war da, wo jetzt Demokratie ist, in Leipzig und in Warschau, in Prag und in Zagreb, vor vier Jahrzehnten eisgraue Diktatur.
Auch im Westen waren gesellschaftliches Leben und Politik in vieler Hinsicht mehr eingehegt, als das heute der Fall ist. Frauen begannen sich erst langsam einen Platz im öffentlichen Leben, in Parlamenten und Regierungen zu erobern. Meinungen machten nicht alle, nicht der demokratische Schwarm, sondern führende Journalisten gaben sie in den Leitartikeln der, wie man damals sagte: meinungsbildenden Presse vor. Die Schwelle zum Protestieren auf der Straße, zum aktivistischen Engagement, lag deutlich höher als heute.
Es ist an der Zeit, die vermeintliche Krise der Demokratie neu zu verstehen. Ernste Gefahren sind nicht zu leugnen. Aber wann gab es sie nicht, und zu welchem Zeitpunkt in der Geschichte wurden sie nicht beredt beschworen?
Versuchen wir es also einmal so: Wir erleben nicht den Abstieg und nahen Untergang, sondern einen Formwandel der Demokratie. Sie geht vor unseren Augen in einen neuen Aggregatzustand über. Im Rückblick erscheinen die Nachkriegsjahrzehnte, zumal in der alten Bundesrepublik, als die Zeit einer wohlgeordneten Demokratie, als die Zeit von Regulierung und Eingrenzung. Nach dieser schönen klaren Ordnung sehnen wir uns häufig zurück.
Aber ein solches Zurück gibt es in der Geschichte prinzipiell nicht, und schon deshalb sollten wir uns auf die neuen Wirklichkeiten einlassen. Das Parteiensystem der siebziger Jahre, als Union und SPD jeweils mehr als vierzig Prozent für sich einheimsten, kehrt ebenso wenig zurück wie die Eindeutigkeit einer nationalstaatlichen Rahmung der Demokratie. Aus der wohlgeordneten Demokratie ist eine raue, ruppige und manchmal schmutzige Demokratie geworden.
Ruppig ging es auch früher schon zu
Vielleicht eine Demokratie, so rau wie das Volk selbst? Ruppig ging es jedenfalls zu in den Anfangszeiten der modernen Demokratie, im späten 18. und im frühen 19. Jahrhundert. Kein Wunder, denn wer damals Ideen von Freiheit, Gleichheit und Selbstregierung des Volkes vertrat, gehörte nicht zu den Anhängern der bestehenden monarchischen Ordnung und ihrer vermeintlich festgefügten ständischen Gesellschaft.
Ob in der Amerikanischen und Französischen Revolution, im englischen Radikalismus, im deutschen Vormärz oder der Revolution von 1848/49: Demokratie sorgte für Turbulenzen. Sie provozierte die Gutgekleideten mit langen Hosen, wie sie nur die Handwerker und Arbeiter trugen – eben die „Sansculotten“, die ohne die damals feine Kniehose –, sie schlug pöbelhaften Krach, wenn sich ein protestierender Haufen zur „Katzenmusik“ vor dem Haus eines verhassten Würdenträgers versammelte.
Als die Männer seit den 1830er Jahren fast ohne Besitz- und Bildungsschranken wählen durften, wie in den USA, aber auch im Südwesten Deutschlands, waren Tumulte an der Tagesordnung: kein sittsamer und feierlicher Gang zur Wahlurne, wie das später üblich wurde.
Am Ende des 19. Jahrhunderts jedoch verlor die Demokratie immer mehr ihre rauen Stellen, ihre Ecken und Kanten. Das feste Netzwerk der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung hegte den Protest der Unterschichten ein. Aber nicht nur das. Die Gesellschaften Europas und Nordamerikas strukturierten sich überhaupt auf andere Weise.
Organisationen und Bürokratien wuchsen und reglementierten das Leben, in der Wirtschaft ebenso wie in Stadt und Staat. Sie gaben oft Schutz und Sicherheit, fügten die Menschen aber auch in feste Netzwerke ein, in Hierarchien, in denen Höherstehende, zunehmend auch wissenschaftliche Experten, das Sagen hatten.
Nach dem Ersten Weltkrieg musste die Demokratie durch ein weiteres Nadelöhr gehen: In Deutschland wie in anderen Ländern Europas wurde sie zur Regierungsform. Nun war es mit der Existenz am Rande und in Dissidenz vorbei – die Demokratie wurde selber zum Staat. Das war, einschließlich des Frauenstimmrechts, ein beispielloser Freiheitsgewinn. Aber es zog auch neue, feste Verstrebungen in ihr Regelwerk ein.
Wohlgeordnet in Gut und Böse war es ab 1945
Die dritte und letzte Stufe im Aufstieg der wohlgeordneten Demokratie markiert die historische Zäsur von 1945. Jetzt entstand die Gestalt, aber auch der Mythos der „westlichen liberalen Demokratie“, wie sie uns bis heute als Idealbild vor Augen steht. Die Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus, dann zunehmend gegen den stalinistischen Kommunismus zwängte die Demokratie in einen geschlossenen Kasten der Eindeutigkeit, in ein binäres Schema von Gut und Böse, dem die rauen Stellen, die Extreme und das Experimentelle abgeschnitten waren.
Auf beinahe allen Ebenen, von den sozialen Grundlagen der Politik bis zu ihren Institutionen, vom Parteiensystem bis zu den kulturellen Stilen und alltäglichen Ausdrucksformen lässt sich dieses Muster der regulierten Demokratie beschreiben. In all diesen Facetten erkennt man zugleich, was sich teils seit vielen Jahrzehnten, teils beschleunigt in den letzten Jahren verändert hat – wie also die wohlgeordnete Demokratie wieder zu einer rauen und ruppigen geworden ist, die deshalb aber nicht weniger Freiheit bietet.
Die alte Demokratie, der wir jetzt oft nachtrauern, war die politische Ordnung einer homogenen Gesellschaft: Die Menschen waren einander, aus heutiger Sicht, ähnlicher als früher. Auf Fotografien noch der siebziger Jahre ist das leicht nachvollziehbar: nur weiße Gesichter, in gleichförmiger Kleidung.
Aber nicht nur ethnisch und kulturell herrschte Homogenität. Es war auch die Zeit relativer sozialer Gleichheit, als sich die Bundesrepublik in der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ ankommen sah. Zugleich waren die Menschen in feste soziale Ordnungen eingefügt, in kollektive Verbände, die ihrem Leben, auch ihrer politischen Entscheidung Richtung gaben.
Man lebte im sozialdemokratischen oder im katholischen Milieu - und wusste, was man demgemäß zu wählen hatte. Die Milieus haben sich aufgelöst; an ihre Stelle ist die Individualisierung getreten. Dazu gehört auch, dass der Familienvater nicht mehr der „Bestimmer“ ist so wie früher.
Aus der ethnisch homogenen Gesellschaft ist zunehmend eine bunte geworden, nach Hautfarben, Lebensstilen, sexuellen Orientierungen. Was politisch gelten soll, wird nicht mehr vorgegeben; jeder will es für sich selber sagen, auch auf Facebook und Twitter, statt nur die Tagesschau zu sehen und die Zeitung zu lesen. Kein Wunder, dass es in solcher Gesellschaft rauer und chaotischer zugeht.
Autoritäten und Eliten verloren an Gewicht
Das Vertrauen in Eliten ist im selben Maße geschwunden. Den alten Autoritäten glaubt man nicht mehr ohne Weiteres – selbst wenn sie demokratisch gewählt sind oder sich auf wissenschaftliche Expertise berufen. Da könnte ja jeder kommen! Und tatsächlich schreiben alle am gemeinsamen Wissen der Wikipedia mit.
Die wohlgeordnete Demokratie der Nachkriegsjahrzehnte, auch das zeigen alte Fotos eindrücklich, war aus heutiger Sicht eine sozial eng geführte, eine verbürgerlichte Demokratie – eine Demokratie mit Hut und Krawatte. Selbst die Arbeiterführer hielten sich daran; erst die Grünen brachen damit.
Die bürgerliche Form, der bürgerliche Habitus, hat sich aufgelöst. Die Turnschuhe Joschka Fischers, die Holger Börner, den Arbeiterführer im Anzug, bei Fischers Vereidigung als hessischer Umweltminister 1985 so schockierten, sind längst demokratische Alltagskluft geworden. Was daran Gewinn und was Verlust ist, das ist gar nicht so leicht zu ermessen. Mit der größeren Freiheit und Vielfalt ging auch etwas von den bürgerlichen Formen, der Höflichkeit der „sehr geehrten Herren“, verloren.
Auch in ihren Institutionen bewegte sich die eingehegte Demokratie in einem schmalen Spektrum. Demokratie ist, wenn man alle vier Jahre wählen geht, wenn Einzelne, wie Joseph Schumpeter es 1942 klassisch formulierte, durch die Mehrheit der Stimmen legitimiert werden, politische Entscheidungen zu treffen.
Das genügte manchen schon seit den späten sechziger Jahren nicht mehr. Menschen wollten ständig Anteil haben können, sie trugen ihre Meinung auf die Straße, artikulierten sie auch jenseits politischer Parteien, in Bürgerinitiativen, sozialen Bewegungen, im demokratischen Aktivismus.
Wer geglaubt hätte, solch unregulierter Aktivismus beschränke sich auf das Edle und Gute – und wer wollte festlegen, was das ist? –, sieht sich getäuscht: Die demokratische Zivilgesellschaft hat, wie wir spätestens seit Pegida wissen, ihre schmutzigen Seiten.
Zur größeren Bandbreite und zum raueren Ton der neuen Demokratie trug die Ausweitung ihres politischen Spektrums bei. In den siebziger Jahren fanden sich, kaum zu glauben, bei Bundestagswahlen 99 Prozent zwischen dem rechten „Extrem“ der CDU/CSU und dem linken der SPD ein.
In Deutschland hatte die Erfahrung des Nationalsozialismus die Angst vor den Extremen in besonderer Weise genährt. Aber anderswo war es ähnlich; in Amerika überlappten sich die Demokraten und die Republikaner, heute progressive und konservative Flügelparteien, zur selben Zeit noch ein ganzes Stück.
Das Links-Rechts-Spektrum ist heute wie ein Gummiband weiter auseinandergezogen. Doch nicht nur das: Die Eindeutigkeit der Grenzen zwischen „liberaler Demokratie“ einerseits, „verfassungsfeindlichem Extremismus“ andererseits, die zur Kultur der alten Bundesrepublik gehörte, hat sich aufgelöst.
Sie geben ihre Stimme nicht ab, sie erheben die
Schließlich war die Demokratie der Nachkriegsjahrzehnte auch in einem unmittelbaren Sinne klar eingegrenzt: in der Festlegung und Verbindlichkeit ihrer staatlichen Grenzen, in der Eindeutigkeit der demokratischen Territorialität. Was für ein Land gelten sollte, wurde in dessen Parlament beschlossen.
Auch in dieser Hinsicht haben wir raueres Gelände betreten. Die nationalstaatlich eingehegte Demokratie wird von mehreren Seiten durchlöchert, von wirtschaftlichen Kräften der Globalisierung und des Kapitalismus ebenso wie von neuen Formen der supranationalen Politik. Nicht einmal auf die geschriebene Verfassung ist noch Verlass, das einst so verlässliche Kompendium der wohlgeordneten Demokratie: Im Grundgesetz ist von den Parteien die Rede, nicht aber von NGOs und Aktivisten, und auch nicht eindeutig davon, wie sich Nationalstaat und Europäische Union demokratisch zueinander verhalten.
Und doch: Er funktioniert, dieser seltsam verwischte Zustand der neuen Demokratie, diese „fuzzy democracy“. Zugleich sollten wir uns nicht wundern, wenn er Unsicherheiten erzeugt, Protest und Aufbegehren und, wie in Großbritannien und den USA, das verzweifelte Bestreben, die nationalstaatlich souveräne Demokratie wiederherzustellen.
Es wird nicht gelingen. Ebenso wenig wird die große Zeit der Volksparteien zurückkommen, oder sich Demokratie auf Wahlen und Parlamente beschränken lassen. Erst recht lassen sich die Bürgerinnen und Bürger nicht in längst verlorene soziale Ordnungen zurückpressen. Sie geben nicht nur ihre Stimme ab; sie erheben ihre Stimme: „vote“ und „voice“. Das klingt oft rau. Das ist die Demokratie, in der wir leben.
Paul Nolte
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