70 Jahre Grundgesetz: Das Ächzen der Demokratien
Weimar – Bonn – Berlin. Drei Städte, drei Staaten, drei Krisen. Warum viele Parallelen trotzdem falsch sind. Ein Essay.
Die Abgesänge auf die Demokratie schwellen an. In Deutschland, in den USA, in Osteuropa, in Frankreich, Großbritannien und dem europäischen Kontinent. Nach dem Aufmarsch der Rechten in Chemnitz überschrieb der anerkannte Publizist Albrecht von Lucke jüngst einen Essay mit: „Nächste Ausfahrt Weimar?“
Und? Befindet sich die Demokratie im Niedergang? Genügen Pegida, die AfD und die neue Polarisierung der Diskurse, um von einer Krise zu sprechen, oder schreiben die Verteidiger der Demokratie eine self-fulfilling prophecy herbei? Wie war das in Weimar und in Bonn, welche Parallelen lassen sich zur Gegenwart der Berliner Republik ziehen - und welche besser nicht?
Über den Untergang der Weimarer Republik haben viele Gelehrte geschrieben. Was sie vermitteln, lässt sich nach drei Blickwinkeln auf die Mikro-, Meso- und Makroebene von Gesellschaft und Politik sortieren.
Die Mikroanalyse gibt den Blick auf die einzelnen Bürger frei. Die Weimarer Republik war gerade unter den Eliten eine Demokratie mit zu wenigen Demokraten. Nicht freie und selbstbewusste Bürger stellten die Mehrheit, sondern verunsicherte Menschen, die von der Katastrophe des Ersten Weltkriegs, dem deutschen Untertanengeist des Wilhelminischen Kaiserreichs und Zukunftsängsten geprägt waren. Dazu kam die subkulturelle Versäulung einer Klassengesellschaft, deren Schichten und Milieus wenig Verbindungen untereinander aufwiesen. Katholiken, Liberale und Sozialdemokraten pflegten kaum gesellschaftlichen Umgang und verbanden sich noch seltener durch Partnerschaft und Heirat.
Im Verlauf der ersten Dekade der Republik schrieb sich das Zeitalter der Ideologien immer stärker in das Denken und Handeln der Individuen ein: Nationalismus, Faschismus auf der einen und der stalinistische Kommunismus auf der anderen Seite trennten die Bürger auf unversöhnliche Weise.
Die ideologische Polarisierung der Bürger setzte sich auf der Mesoebene kollektiver Organisationen fort. Das Parteiensystem war von Beginn der Weimarer Republik an aufgrund des (fast) reinen Verhältniswahlrechts stark fragmentiert. In der Mitte dominierte zunächst die Weimarer Koalition der demokratietragenden Parteien, aber mit den Wahlen von 1930 und 1932 entwickelte sich die Parteienlandschaft vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise zu einem Prototyp des polarisierten Vielparteiensystems: viele Parteien, eine ausgedünnte Mitte, starke Antisystemparteien auf den Flügeln (NSDAP und KPD), sekundiert von der semiloyalen DNVP (Deutschnationale Volkspartei) und einem ausgeprägten zentrifugalen Wettbewerb.
Aber auch das allein genügte nicht, um die Weimarer Republik zum Einsturz zu bringen. Das macht erst der ganzheitliche Blick auf die Makroebene begreifbar. Dort wurden infolge der Weltwirtschaftskrise die Risiken eines national wie international unkoordinierten Kapitalismus für die Demokratie sichtbar: Massenarbeitslosigkeit, Versagen der sozialen Sicherungen, Elend und der Zulauf junger Männer ohne Zukunft zur SA.
Gleichzeitig erwiesen sich Teile der Weimarer Verfassung als konstitutionelle Falle für die Demokratie. Insbesondere das Recht des Präsidenten, das Parlament aufzulösen, und das Recht des Präsidenten zu Notverordnungen erwiesen sich als desaströs bei einem Reichspräsidenten Hindenburg, der von einer demokratiefeindlichen Kamarilla beraten, zunehmend zum entrückten Ersatzkaiser mutierte.
Die wechselseitige Verschärfung von Demokratiedefekten auf der Mikroebene der Bürger, der Mesoebene der politischen Parteien bis hin zur Makroebene der konstitutionellen und wirtschaftlichen Grundfesten des Gesamtsystems hatte die Demokratie in eine existenzbedrohende Krise geführt.
Aber es bedurfte auch hier noch der Fehlkalkulation sich selbst überschätzender reaktionärer Staats- und Wirtschaftseliten, die die moribunde Republik den autokratischen Händen Hitlers übergaben. Damit war der erste Versuch gescheitert, eine Demokratie auf deutschem Boden auch längerfristig zu etablieren. Der Weg in die dunkelste Phase der deutschen Geschichte begann.
So vorbildlich, wie heute getan wird, war die Bonner Republik nicht
Nach der politischen und moralischen Katastrophe von 1933 bis 1945 beriet der Parlamentarische Rat von September 1948 bis Mai 1949 in Bonn über das Grundgesetz eines neuen Staates. Es wurde am 23. Mai 1949 verkündet. Das Grundgesetz funktionierte als inspirierender normativer Rahmen für politische Entscheidungen, die spätestens zu Beginn der 1960er Jahre zu einer stabilen Demokratie führten.
Diese, die Westbindung, die Römischen Verträge, die Aussöhnung mit Frankreich, der Pax Americana wie das besondere Verhältnis zu Israel, führten die Bundesrepublik zurück in den Kreis der zivilisierten Nationen. Es war möglicherweise die wichtigste Etappe auf dem langen Weg in den demokratischen Westen.
1961 hatten sich das Parteiensystem und die tragenden Institutionen der Republik konsolidiert. Das Wirtschaftswunder tat das Seine, um die Bürger von den Vorteilen der noch fremden Demokratie zu überzeugen. Dennoch wurde der Bundesrepublik Deutschland erst 1980 in einer Studie der US-Politikwissenschaftler Gabriel Almond und Sidney Verba eine stabile demokratische Bürgerkultur bescheinigt.
Davor lag der erste wirkliche Regierungswechsel der Republik, der sich in zwei Etappen vollzog: 1966-1969 die Große Koalition und 1969-1982 die soziale-liberale Regierung von SPD und FDP. Parallel dazu vollzog sich die von der 68er Bewegung angestoßene kulturelle Modernisierung der Gesellschaft. Der Sozialstaat wurde ausgebaut, keynesianische Instrumente in die ordoliberale Grundstruktur der Wirtschaftspolitik integriert und die neokorporatistische Partnerschaft zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft vertieft.
Dieses politische und wirtschaftliche „Modell Deutschland“ erscheint heute manchen Krisentheoretikern als der Höhepunkt demokratischer Entfaltung in Deutschland. Ein Blick in die Gesellschaft lässt daran Zweifel aufkommen: Bis 1977 benötigten Ehefrauen die Einwilligung der Männer zu Arbeitsverträgen. Erst 1997 wurde Vergewaltigung in der Ehe als ein spezifischer Straftatbestand in das Strafgesetzbuch eingeführt.
Homosexuelle wurden bis 1973 mit Strafrecht und Gefängnis drangsaliert. Ehen zwischen Protestanten und Katholiken galten als problematisch. Schwarze Menschen wurden als Neger diskriminiert, religiöse und ethnische Minderheiten fast ausschließlich durch die Brille der Mehrheitsgesellschaft gesehen. Daran muss erinnert werden, wer die 1960er und 70er Jahre zum goldenen Zeitalter der Demokratie verklärt – und daraus folgert, die Berliner Republik sei eine Geschichte des demokratischen Niedergangs.
Die Kanonen der Populisten sind geladen
Im Jahr 1990 wurde Deutschland wiedervereinigt. Das war kein einfaches Unterfangen. Fehler wurden gemacht. Die sozialen wie ökonomischen Belastungen waren erheblich. Wirtschaftlich wurde Deutschland mehr als ein Jahrzehnt als der „kranke Mann Europas“ bezeichnet.
Mit dem Ende des Reformstaus und des wirtschaftlichen Wiederaufstiegs stieg das nun wiedervereinigte Deutschland zur führenden Macht der EU auf. Und dennoch: Die Demokratie in Deutschland wird gerade heute in der wissenschaftlichen und öffentlichen Debatte als herausgefordert, fragil und krisenhaft beschrieben. Mehr denn je. Woher kommt das? Noch einmal die drei Perspektiven.
Auf der Mikroebene sind die Wähler volatiler geworden. Sie wechseln schneller die Parteien, was für Ostdeutschland stärker gilt als für Westdeutschland. Das ist per se nicht negativ. In einem größeren Angebot an Parteien können sie zielgenauer entlang ihrer Interessen und Wertvorstellungen wählen.
Zugleich hat sich zum alten Verteilungskonflikt zwischen Kapital und Arbeit, rechts und links, ein neuer soziokultureller etabliert. Er durchschneidet und überlappt den alten und trennt nun auch weltoffene Kosmopoliten (Grenzen öffnen) und nationalstaatsorientierte Kommunitaristen (Grenzen schließen). Das betrifft alles von Handel, Asylpolitik über den Nationalstaat bis zur Europäisierung. Und bestimmt zunehmend die Politik und den Wettbewerb der Parteien. Die neue Konfliklinie verändert das Parteiensystem.
Die Mitte ist nach wie vor das Maß
Die AfD hat sich nach den bescheidenen Anfängen einer erzkonservativen Antieuropapartei zu einer chauvinistischen Formation gewandelt. Auf der anderen Seite stehen die Grünen, die sich als moralisch überlegene Kosmopoliten präsentieren, die die Grenzen offenhalten, die europäische Integration vorantreiben und den Klimawandel stoppen wollen. Blutspender für beide Parteien sind die einst großen Volksparteien CDU/CSU und SPD, die es besonders stark trifft.
Aber: Weimarer Verhältnisse? Mitnichten. Die AfD ist nicht die NSDAP, die Grünen und auch die Linke nicht die demokratiefeindliche KPD. Das Zentrum des Parteiensystems ist immer noch deutlich übervölkert.
Unsere Zivilgesellschaft ist trotz Pegida und Co. weitgehend demokratisch gesinnt. Sorgen bereitet allerdings eine sich zunehmend fragmentierende Öffentlichkeit, die insbesondere in der digitalen Sphäre in abgeschottete Echokammern zerfällt. Vor allem auf der Rechten gedeihen so Fremdenhass, Verschwörungstheorien und das Klima von post truth. Fakten werden verdreht, die Wahrheit relativiert. Die demokratischen Institutionen und Akteure haben dagegen noch kein Rezept gefunden.
Auch auf der Makroebene der verfassungstragenden Institutionen sind die Unterschiede zu Weimar deutlicher als die Gemeinsamkeiten. Der Parlamentarische Rat hat die Lehren aus den semi-präsidentiellen Verfassungsfallen der Weimarer Republik gezogen und für ein parlamentarisches Regierungssystem votiert. Das Grundgesetz hat sich schon in Bonn als ein von demokratischen Politikern gestalteter Glücksfall erwiesen. Von dem liberalkonservativen Dolf Sternberger bis hin zu dem linken Jürgen Habermas wurde dies als das Aufziehen eines Verfassungspatriotismus gedeutet.
Auch wenn wir heute erleben, dass es bei Teilen der Bevölkerung eine illusionäre und gefährliche Rückwendung zu einem völkisch, aufgeladen Nationsbegriff gibt, überwiegen doch die Vertreter eines modernen westlichen Verständnisses der Staatsnation, die sich erst und vor allem durch die Verfassung konstituiert. Der Demos mag und muss sich in einer offenen Gesellschaft ethnisch wie kulturell verändern; aber gerade deshalb ist er in der Lage, sein Wesen als demokratische Nation beständig neu zu erschaffen.
Der Druck der Globalisierung ist immens
Berlin ist weder Weimar noch Bonn. Das wiedervereinigte Deutschland ist stabiler als Weimar, und es ist demokratischer, als es je ein Staat auf deutschem Boden war. Dies gilt auch im Vergleich zur wohl geordneten alten Bundesrepublik, selbst für deren Reformphase von 1969 bis 1974. Die Demokratisierung der „Berliner“ Demokratie hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten vor allem im Bereich des liberalen Rechtsstaats vollzogen.
Aber gerade das Liberale steht heute unter Beschuss. Die Kanonen werden von den Rechtspopulisten geladen. Das Ziel ist die schleichende Transformation hin zu einer illiberalen Demokratie. Das Mehrheitsprinzip soll zur Demokratie schlechthin stilisiert werden. The winner takes it all. Auf die Überfokussierung auch kleinster Minderheiten durch die kulturelle Linke folgt nun die Verabsolutierung der Mehrheit durch die illiberale Rechte.
Allerdings setzt die Globalisierung die Berliner Republik einem kälteren Wind aus als dies im geschützten Teilstaat der Bonner Republik der Fall gewesen ist. Manche Schichten, Gruppen und Individuen fühlen sich in ihren wirtschaftlichen Interessen und kulturellen Befindlichkeit bedroht und nicht ausreichend repräsentiert. Dies ist der soziale Nährboden der Rechtspopulisten. Dieses Problem wurde von den politischen Eliten nicht hinreichend ernst genommen. Von einer demokratietauglichen Lösung ist es weit entfernt.
Dennoch: Unsere Demokratie steckt nicht in einer Existenzkrise. Der Wunsch, durch eine besonders drastische Kritik der demokratischen Zustände auch besonders progressiv zu erscheinen, ist weder logisch noch empirisch überzeugend. Gelöst werden müssen aber Probleme, die die grundlegenden Prinzipien der Freiheit und Gleichheit auszuhöhlen drohen: die zunehmende sozioökonomische Ungleichheit, die Globalisierung deregulierter Finanzmärkte, die digitale Privatisierung des Weltwissens, Hassreden in digitalen wie analogen Debatten, der Klimawandel sowie die vorschnelle Preisgabe nationalstaatlicher Prärogativen an die EU und andere supranationale Regime.
Auch und gerade in Zeiten einer drohenden Renationalisierung darf die EU kritisiert werden. Denn erst die Kritik fördert ihre Demokratisierung. Wir dürfen das Projekt einer weltoffenen Gesellschaft weder den neoliberalen Staatsverächtern noch selbstgerechten Moralisten und schon gar nicht den populistischen Nationalisten überlassen.
Professor Wolfgang Merkel ist Direktor der Abteilung „Demokratie und Demokratisierung“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).
Wolfgang Merkel
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