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Protest in Thüringen gegen die Wahl von Thomas Kemmerich (FDP).
© Bodo Schackow/dpa-Zentralbild/dpa

Das Dilemma von Thüringen: Die AfD muss bekämpft, nicht dämonisiert werden

CDU und FDP stehen ihren Wählern gegenüber im Wort. Das rechtfertigt keinen Tabubruch. Aber das Dilemma auszublenden, ist ignorant und arrogant. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Welche Partei soll ein Thüringer wählen, der nicht möchte, dass der Vertreter der Linkspartei, Bodo Ramelow, mit SPD und Grünen das Land regiert? Diese Frage illustriert drastisch, dass es bei dem politischen Beben in dem kleinen Bundesland um mehr geht, als es die oft platte Gegenüberstellung von Gut und Böse, Demokrat und Nazi, suggeriert.

War man in Thüringen auf einen Trick hereingefallen?

Alle Seiten sollten anerkennen, dass ein wirkliches Dilemma vorliegt. Die Ausgangslage war die: Eine Minderheit, bestehend aus Rot-Rot-Grün, wollte an der Macht bleiben – gegen eine Mehrheit, die ihren Wählern das Ende von Rot-Rot-Grün versprochen hatte, aber aus historisch-moralischen Gründen keine Koalition bilden oder auf andere Weise zusammenarbeiten darf.

Symbolisch aufgeladen wurde der Streit durch drei Spezifika. Erstens war Thüringen das einzige Bundesland mit einem Vertreter der Linkspartei als Ministerpräsidenten. Zweitens verkörpert die dortige AfD, mit Björn Höcke an ihrer Spitze, eine besonders üble Form des Rechtsextremismus. Drittens hat Thüringen, vor fast genau 90 Jahren, eine verhängnisvolle Rolle bei der Machtergreifung der Nazis gespielt.

Dass in diesem Jahr außerdem des 75. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz gedacht wurde und der 75. Jahrestag des Kriegsendes kurz bevor steht, bringt – bei anhaltend hohem Antisemitismus und anhaltend hoher Ausländerfeindlichkeit –, den Resonanzboden der Debatte zusätzlich zum Schwingen.

Insofern ist verständlich, dass der Tabubruch, der in Erfurt begangen wurde, weil zum ersten Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte eine rechtsextreme Partei ausschlaggebend für die Wahl eines Ministerpräsidenten war, bundesweites Entsetzen auslöste. Hinzu kam die Schmach, womöglich auf einen Trick der AfD hereingefallen zu sein.

Manche Warnungen nach der Wahl in Thüringen wirkten übertrieben

Entsprechend groß war der Alarm. Wehret den Anfängen! So richtig, wie das im Grundsatz ist, so übertrieben wirkten manche Warnungen, die ein zweites „Drittes Reich“ prognostizierten oder die deutsche Demokratie in Gefahr sahen. Die AfD muss bekämpft, nicht dämonisiert werden. Dieser Unterschied wird nur noch selten beachtet.

Zum Kampf gegen die AfD gehört das Kooperationsverbot, das jegliche Zusammenarbeit mit dieser Partei ausschließt. Was aber heißt Zusammenarbeit? Ein bloßes gemeinsames Abstimmungsverhalten kann damit nicht gemeint sein. Sonst müssten FDP und Grüne im Bundestag stets mit der Regierungskoalition stimmen, wenn die AfD gegen die Koalition votiert.

Ein gemeinsame Aktion von CDU, AfD und FDP in Thüringen?

Nein, entscheidend ist, ob Absprachen getroffen wurden. Haben CDU, AfD und FDP in Thüringen den Coup gemeinsam ausgeheckt? Einige Indizien deuten darauf hin, doch Beweise gibt es bislang nicht dafür. Sollte die Wahl von FDP-Mann Thomas Kemmerich gewissermaßen ein Betriebsunfall gewesen sein, sind zumindest die Mutterparteien intensiv bemüht, den Schaden zu begrenzen. Ungeschehen machen lässt er sich ohnehin nicht.

Auch das Dilemma bleibt. Denn noch einmal: Welche Partei soll ein Thüringer wählen, der Rot-Rot-Grün abwählen möchte? Wenn die Berufung auf das Kooperationsverbot von einer Minderheit benutzt werden kann, um sich an der Macht zu halten, droht der Kampf gegen die AfD instrumentelle Züge anzunehmen. Auch CDU und FDP stehen ihren Wählern gegenüber im Wort. Sie zu zwingen, entgegen ihrem Versprechen Rot-Rot-Grün im Amt zu lassen, obwohl diese Koalition keine Mehrheit mehr hat, ist eine Zumutung.

Diese Zumutung rechtfertigt nicht den Tabubruch, der mit der Wahl von Kemmerich begangen worden war. Das muss ganz klar sein. Aber das Dilemma auszublenden, in dem sich CDU und FDP in Thüringen befinden, ist ignorant und arrogant. Insbesondere die Vertreter von Rot-Rot-Grün sollten sich vor Überheblichkeit hüten. Im Kampf gegen die Höcke-AfD müssen alle Demokraten begreifen: Geschlossenheit fällt nicht vom Himmel. Sie muss im Verständnis füreinander hart erarbeitet werden.

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