Virus, Wetter - und das Alter: Deutschland stöhnt unter einem dystopischen Belastungsmix
Die Hitzewelle strapaziert eine Bevölkerung physisch, die bereits wegen psychischer Überforderung stöhnt. Und das ist längst nicht alles. Ein Kommentar.
Ob jetzt Gewitter durchziehen oder nicht, die Hitze ist da. Sie hat sich festgesetzt. Steckt in den Häuserwänden, die noch lange nach Sonnenuntergang noch abstrahlen, im Asphalt, im Beton, im vertrockneten Laub, das überall liegt, im trockenen Staub. Wohnungen sind stickig, lüften bringt nur noch mehr Wärme rein. Nachts wälzt man sich, und jeder Motor, der irgendwo läuft, treibt die Temperatur noch höher.
Ist es nicht ein Graus?
Ob die Hitzewelle in diesem Jahr tatsächlich quälender ist in anderen Jahren ist für die Frage vielleicht gar nicht so entscheidend. Zum Graus wird die diesjährige Hitzeperiode allein schon deshalb, weil sie die erste ist, die mit Maske ertragen werden will, unter der es gleich noch etwas stickiger ist.
Sie ist die erste auch, bei der man sich nicht mal eben zur Abkühlung ins nächste Freibad drängelt, weil deren Besucherzahlen reglementiert und Tickets online vorzubestellen sind. Und auch an die Seen und Strände flüchtet man weniger sorglos als sonst, wenn einen überallhin Warnrufe vor Überfüllung und Ansteckungsgefahr begleiten. Und fährt man doch, sieht man dort womöglich nur arg gesunkene Wasserpegel. Weil die Hitze für Verdunstung sorgt, und außerdem die Grundwasserpegel sinken.
Es ist, als hätten sich Wetter und Virus zusammengetan und sich überlegt, wie sie die Menschen aufschrecken können. Ihre naheliegende Absicht: ein für alle Mal klar zu machen, dass es wie bisher nicht weitergehen kann. Herausgekommen bei der Kooperation ist ein dystopischer Cocktail.
Den bekommt nun eine Bevölkerung serviert, deren psychische Verfassung seit längerem ohnehin kriselt. Das Kriseln liegt an globalen Megatrends wie der Digitalisierung bis hin zu konkreten Sorgen um den Job, drohende Mieterhöhungen oder zu geringe Altersbezüge. Es lässt sich ablesen an tendenziell immer weiter ansteigenden Krankmeldungen wegen Burnout, Depression und sonstigen Überforderungsleiden. Und auch an einem gesellschaftlichen Klima, das zunehmend von grantigen Zerwürfnissen, Starrsinn und Unversöhnlichkeiten geprägt zu sein scheint.
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Ein weiterer Krisel-Faktor ist das steigende Durchschnittsalter der Menschen. Dieser Krisel-Faktor wächst seit Jahrzehnten schon an und wird in der Regel geflissentlich ignoriert, weil er so unabänderlich wie volkswirtschaftlich verhängnisvoll ist. Womöglich ist die sich fortsetzende Überalterung der am meisten unterschätze Faktor, der dieses Land prägt.
Mit dem Alter kommen nicht automatisch Weisheit, Abgeklärtheit, lange Reisen und Opernbesuche. Viel eher werden mit dem Alter Herausforderungen schneller zu Überforderungen, die man aus naheliegenden Gründen lieber abwehrt. Man kann einfach nicht mehr so wie die Jungen, und schlimmer noch: wie man selbst in jungen Jahren. Wer lässt sich daran schon gern erinnern?
Wenn man sich also den deutschen Durchschnittsmenschen so vorstellt: nicht mehr ganz jung, ziemlich abgearbeitet, von moderner Technik und gesellschaftlichen Debatten gestresst, und wo die Maske ist, weiß auch wieder keiner, verflixt!, dann will man angesichts der Hitze rufen: Jetzt ist aber mal Schluss!
Duldungsstarre kann nicht die Antwort sein
Doch das ist das Problem: Es ist nicht einfach Schluss. Die Arbeits- und Alltagsstresssituationen werden aller Wahrscheinlichkeit nach noch weiter zunehmen. Die heißen Sommer werden aller Wahrscheinlichkeit nach noch heißer werden und noch länger dauern. Die Antwort kann nicht Duldungsstarre sein. Die Antwort werden Veränderungen sein müssen. Womöglich große.
Will man ran an die Software und die Arbeitswelt reformieren oder überhitzte Debatten abmoderieren, braucht man grundstürzende Konzepte. Will man ran an die Hardware und Städte hitzetauglich machen, muss man akut reagieren – Sommerdienste etablieren und Straßenzüge wässern – und längerfristig in der Stadtplanung umdenken.
Wer erträgt die Aussicht auf große Herausforderungen?
Längst klar ist, dass Land- und Forstwirtschaft neu aufgestellt werden müssen. Vielleicht gar das gesamte System der Wassernutzung hierzulande, das auf uralten Brunnen- und Leitungssystemen fußt.
Das sind sehr große Aufgaben. Wer ist bereit für die Anstrengungen? Oder sollte man besser fragen: Wer erträgt die Aussicht darauf, dass Anstrengungen nötig sei werden?
Die jährlich steigenden Krankheitsfälle wegen sinkender Stressresistenz haben offensichtlich bisher nicht zu konzeptionellen Veränderungen geführt. Die gesellschaftlichen Debatten werden ebenfalls nach wie vor immer biestiger. Werden die Menschen dieser Tradition folgend einfach auf den Herbst warten und nächstes Jahr neu losstöhnen? Sollten Wetter und Virus sich verzockt haben?