„Wäre wirtschaftliche Notsituation“: Deutschland kann laut Habeck auf russisches Gas verzichten, aber ...
Der Wirtschaftsminister sieht starke Preisturbulenzen am Energiemarkt. Schlimmstenfalls drohten ökonomische Auswirkungen wie durch die Corona-Pandemie.
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hat einen Ausgleich für kurzfristige Preisanstiege bei Gas infolge des Ukraine-Konflikts in Aussicht gestellt. „Was die kurzfristigen Preisanstiege und die Belastung für Verbraucher und Unternehmen angeht, werden wir Entlastung an anderer Stelle schaffen“, sagte der Grünen-Politiker am Mittwochmorgen im Deutschlandfunk.
Habeck geht in den kommenden Tagen von weiter steigenden Preisen für Öl und Gas aus. „Wir müssen mit turbulenten Tagen rechnen“, sagte er.
„Wir können ja kaum in den Weltmarktpreis eingreifen, bei Gas oder bei Öl. Wir werden aber die EEG-Umlage abschaffen. Wir werden sozialpolitisch gegenhalten“, sagte Habeck. Auch steuerpolitische Maßnahmen seien denkbar.
Allein der Verbraucherpreis für Erdgas ist zuletzt um rund ein Viertel gestiegen. Verbraucher zahlen deshalb teilweise hunderte Euro mehr im Jahr an ihre Versorger. Die Großhandelspreise haben sich teilweise versechsfacht. Habeck nannte sogar Zusatzbelastungen von rund 1000 Euro für die Bürger pro Jahr.
Habeck schließt erneute Aussetzung der Schuldenbremse nicht aus
Das Wichtigste sei zunächst, dass Deutschland genug Gas habe, sagte Habeck. Dafür sei mit vielen Vorbereitungen gesorgt. Die Gasversorgung sei daher sicher, auch die Kohle- und Ölversorgung. Die Energiefrage sei zu einer sicherheitspolitischen Frage geworden, erklärte er weiter.
Auf die Frage, ob Deutschland komplett auf russisches Gas verzichten könne, sagte Habeck: „Ja, kann es.“ Die Möglichkeit, dass Deutschland genug Gas und genug Rohstoffe ohne Lieferungen aus Russland bekomme, sei gegeben.
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Habeck schränkte aber ein, dass die Kosten dafür deutlich höhere Preise seien. Das müsse dann nochmal „sehr viel stärker kompensiert“ werden. Das könne dann den aktuellen Haushalt sprengen. Wörtlich sagte er: „Dann sind wir nicht mehr in den haushälterischen Möglichkeiten, die wir uns selber in der Verfassung gegeben haben.“
Dass deshalb erneut die Schuldenbremse ausgesetzt wird, will Habeck nicht ausschließen. Er verglich eine Situation, in der die Gaslieferungen aus Russland ausfallen, mit der „wirtschaftlichen Notsituation durch die Pandemie“.
Der Hintergrund: Auch Staaten wie China kaufen in großem Stil zum Beispiel Flüssiggas (LNG) auf dem Weltmarkt. Würde Deutschland und Europa auf russisches Gas verzichten, würden die Preise hier noch einmal enorm steigen.
Der „Spiegel“ berichtete zuletzt über Berechnungen in der Bundesregierung, wonach bei einem Lieferstopp Russlands die Erdgasversorgung gesichert sei. Die restlichen Vorräte der deutschen Speicher sowie das Flüssiggas, das sich über Kurzzeitverträge einkaufen lasse, würden ausreichen, um die Versorgung sicherzustellen.
Gazprom liefert schon jetzt auffallend wenig Erdgas
Voraussetzung sei, dass die Temperaturen in etwa im langzeitlichen Durchschnitt lägen, hieß es weiter. Bei einem länger anhaltenden Kälteeinbruch gelte dieses Szenario nicht.
Aktuell stehen die russischen Rohstoffexporte nicht auf den Sanktionslisten Europas und der USA. Zu groß ist die Abhängigkeit. Auch die USA importieren russisches Öl. Fiele diese Quelle weg, würden die Preise für Kraftstoffe steigen. Innenpolitisch wäre das für den ohnehin politisch angeschlagenen US-Präsidenten Joe Biden eine Hypothek vor den wichtigen Midterm-Wahlen im Herbst.
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Allerdings könnte ein Exportstopp für russische Rohstoffe über einen Umweg zustande kommen. Bei einer vollständigen Invasion der Ukraine drohen die USA, Russland vom internationalen Zahlungssystem Swift auszuschließen. Unternehmen in westlichen Staaten könnten dann für Rohstoffimporte nicht mehr per Banküberweisung nach Russland bezahlen. Die Importe würden wohl gestoppt.
Den Zertifizierungsstopp für Nord Stream 2 brachte Habeck nicht mit den Sanktionen gegen Russland in Verbindung. Das sei ein anderer Vorgang. Zu prüfen sei jetzt, ob die Bündelung der Gaslieferungen in der Ostsee mit Nord Stream 2 nicht die Versorgungssicherheit gefährde.
Nach Berechnungen des Branchendienstes S&P Global Platts, die dem „Spiegel“ vorlagen, hat Russlands Hauptexporteur, der Staatskonzern Gazprom, 2021 nur knapp 130 Milliarden Kubikmeter Gas nach Europa geliefert. Dies seien rund 31 Prozent weniger als durchschnittlich in den fünf Jahren davor. Anfang 2022 seien die Lieferungen sogar noch etwas zurückgegangen.
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen sprach zuletzt davon, dass die Gazprom-Lieferungen auf dem niedrigsten Stand seit sechs Monaten seien und das mitten im Winter. „Die Anzeichen, dass der Kreml Gaslieferungen weiterhin als politisches Druckmittel einsetzt, mehren sich“, sagte sie.