Corona im Land der Dichter und Denker: Deutschland bewegt sich auf einen Abgrund an Verdrossenheit zu
Beim Impfen oder Testen - es ruckelt in der Coronapolitik. Es wird aufgeschoben statt gehandelt. Das könnte zu einem Demokratie-Problem werden. Ein Kommentar.
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Deutschland bewegt sich auf einen Abgrund zu - ja, doch, einen Abgrund: an Verdrossenheit. Denn die Probleme in der Bewältigung der Coronakrise dauern an, werden nicht geringer, sondern scheinen sich im Gegenteil sogar auszubreiten. Impfen, Impfstoffe, Schnelltests, Testzentren - je genauer wir hinschauen, desto komplizierter scheint alles zu werden. Und eine Lösung sowieso.
Details übernehmen die Herrschaft: Probleme werden nicht kraftvoll angegangen, sondern zuerst in derart viele vorher zu regelnde Einzelpunkte zerlegt, dass dann alles zusammen nahezu nicht mehr zu bewältigen zu sein scheint.
Das führt dann beispielsweise dazu, dass hierzulande das Impfen so gar nicht vorankommt. Während in Israel bereits pro 100 Einwohner 94,6 Einzelimpfdosen verabreicht worden sind, liegt die Zahl der mindestens mit einer Einmaldosis Geimpften in Deutschland gerade mal bei 8,2. Und in Großbritannien werden täglich fast doppelt so viele Menschen wie in Deutschland geimpft.
Die Impfreihenfolge, die Organisation der Testzentren, die Art der Bestellungen tun ein Übriges, den Eindruck zu verstärken, im Land der Dichter und Denker und Ingenieure werde alles eine ungewöhnlich komplizierte Angelegenheit. Prokrastination statt Aktion, aufschieben statt handeln - wo das Ganze unüberwindlich wirkt, führt das zu Lähmungserscheinungen. Und in der Folge zu einem großen Problem: Autokratismus light. Wer, mit Charisma ausgestattet, den Staat in seinem Mangel an Durchsetzung kritisiert, gewinnt.
Amerika macht Tempo – Deutschland verharrt im Lockdown
Das liegt an der inzwischen auch sehr deutschen Eigenschaft, nicht einfach mal mit dem Machen zu beginnen und die Probleme dann zu lösen, wenn sie vor einem stehen. Also wie die Amerikaner einen Rahmen zu setzen und in den hinein zu arbeiten. Hier wird ein Problem nach dem anderen bearbeitet, bis daraus im besten Fall ein Gesamtbild entsteht. Das kann schon ein Gesamtkunstwerk werden - strapaziert aber bis dahin die Geduld all derer, die auf Lösungen hoffen. Und das sind sehr viele.
Der Unterschied in der Wirksamkeit ist derzeit gut zu besichtigen. Joe Biden hat das Tempo der Impfungen noch einmal erhöhen können, im Mai sind die Amerikaner vermutlich durch. Deutschland ist da womöglich immer noch im Lockdown.
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Die nahezu überall auftauchenden Organisationsmängel zermürben das Selbstwertgefühl. Das wird selbst bei den Gutmeinenden im Land Unzufriedenheit nähren - und zwar mit denjenigen, die an der Spitze Verantwortung dafür tragen, dass die Menschen sich nicht nur wahrgenommen, sondern sicher fühlen. Sicher im Gefühl, dass die Regierenden wissen, was sie tun und zu tun haben.
Wenn aber dieses Gefühl, noch begleitet durch negative Wahrnehmung, immer weiter verloren geht, geht zugleich Respekt verloren. Und wo Respekt sich auflöst, lässt er Platz für Ab- und Auflehnung. Verdruss wird zu Verdrossenheit, und das macht die Sache für die demokratischen Institutionen gefährlich. Die zumal in diesen Zeiten mächtig unter Druck geraten sind, weil die Exekutive ihre Befugnisse dehnt, ohne sie augenscheinlich wirklich erfolgreich zu nutzen.
Für diejenigen, die sich in den Bundestag wählen lassen wollen - in die Volksvertretung - bedeutet das eine enorme Verpflichtung. Zu Wohlverhalten in jeder Hinsicht. Jede:r einzelne muss nicht nur erklären, wozu das Mandat in der Zeit zwischen den Pandemien dienen soll, sondern darüber hinaus, wie Regieren in dieser Pandemie sowohl kontrolliert als auch unterstützt werden kann. Was gar nicht geht: fragwürdige Geschäfte mit der Pandemie. Denn Deutschland darf nicht in allgemeine Verdrossenheit driften.
Stephan-Andreas Casdorff
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