Soziale Mobilität: Deutsches Bildungssystem erfolgreicher als angelsächsisches
Die Reformbemühungen zeigen Erfolge. Anlass zur Sorge gibt allerdings die Marginalisierung der unteren Einkommensschichten. Ein Gastbeitrag.
Der Autor lehrt Philosophie und politische Theorie an der Ludwig Maximilians Universität in München. Nächste Woche erscheint sein neues Buch „Die gefährdete Rationalität der Demokratie“ bei der Hamburger Edition Körber.
Vom diesjährigen Wirtschaftsforum in Davos erreicht uns die Botschaft, dass Deutschland bei den Aufstiegschancen international zurückliegt. Auch hierzulande ist die Behauptung immer wieder zu hören.
Meist wird für die angeblich geringe soziale Mobilität das „verkrustete“ oder „konservative“ Bildungssystem verantwortlich gemacht, manchmal auch eine mangelnde Risikobereitschaft, die sich in geringem Aktienbesitz niederschlägt, oder die sonst so gelobte mittelständische Wirtschaft, die zur auffällig ungleichen Vermögensverteilung in Deutschland beitrage.
Deutschland an der Spitze der größeren Industrieländer
Auch von Behinderungen im freien Marktzugang oder der geringen Bereitschaft, sich selbständig zu machen, ist die Rede. Viele ziehen daraus den Schluss, Deutschland solle sich internationalen – und das heißt im Wesentlichen: angelsächsischen Standards – anpassen, die Märkte weiter flexibilisieren und den Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft nicht durch das Festhalten am verarbeitenden Gewerbe behindern.
Die Fakten sprechen eine ganz andere Sprache: Deutschland gehört zwar nicht zur absoluten Spitzengruppe, was soziale Mobilität angeht, diese wird von den skandinavischen Ländern besetzt, aber es liegt an der Spitze der größeren Industrieländer, weit vor den USA und Großbritannien, auch vor Frankreich und Italien.
Zusammenhang zwischen Sekundäreinkommen und sozialer Mobilität
Ja, Deutschland führt die Gruppe der großen Industriestaaten G7 hinsichtlich der sozialen Mobilität an. Deutschland muss sich wegen mangelnder Aufstiegschancen nicht schämen. Zwischen der Ungleichheit der Sekundäreinkommen und sozialer Mobilität besteht ein tendenzieller Zusammenhang.
Das heißt: Je ungleicher die Einkommen nach Steuern und Abgaben, desto geringer die Aufstiegschancen. Aber auch andere Faktoren spielen eine Rolle. Die südamerikanischen Staaten sind von extremer Ungleichheit und weisen zugleich die niedrigste soziale Mobilität auf.
Angelsächsische Bildungssysteme weisen geringere soziale Mobilität auf
Müsste man nicht erwarten, dass die angelsächsischen Länder mit ihrer Marktorientierung, ihrer kulturellen Vielfalt, ihrer Weltoffenheit und ihren Bildungssystemen eine hohe soziale Mobilität aufweisen? Ausgerechnet die USA und Großbritannien bieten jedoch geringe Aufstiegschancen, allerdings noch unterboten von den Wachstums- und Schwellenländern China und erst recht Indien.
Die angelsächsischen Bildungssysteme und diejenigen, die diese imitieren (auch Deutschland hat dies in den vergangenen zwei Dekaden mit mäßigem Erfolg versucht) gehen mit einer weit geringeren sozialen Mobilität einher als in Deutschland.
Auffällig hohe Quoten der Jugendarbeitslosigkeit
Und das, obwohl sie einen gemeinsamen Weg in allgemeinbildenden Schulen von zwölf Jahren mit dem Abschluss eines Highschool-Diploms vorsehen und eine möglichst hohe Studienbeteiligung bis zu einem Bachelorabschluss anstreben. Das Ergebnis ist jedoch eine schlechte Passung von Bildungsabschlüssen und den Erfordernissen des Arbeitsmarktes, was sich in auffällig hohen Quoten der Jugendarbeitslosigkeit niederschlägt.
Dieses Phänomen ist sogar in den skandinavischen Staaten zu beobachten: Schweden hat eine dreimal so hohe Jugendarbeitslosigkeit wie Deutschland, Großbritannien eine mehr als doppelt so hohe.
Die mangelnde Berufsorientierung des Bachelorstudiums in den USA führt dazu, dass die Unternehmen dort in der Regel nur geringe Berufsqualifikationen von neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erwarten, das Grundmodell lautet „learning on the job“.
Probleme des Übergangs zwischen Bildungssystem und Berufssystem
Die universitären Studienangebote sind in der Spitze weit attraktiver als diejenigen in Deutschland, in der großen Mehrheit aber im Niveau weit darunter – noch unter dem deutscher Fachhochschulen. Das wissen amerikanische Personalplaner und loben interessanterweise das stärker berufsorientierte deutsche Bildungssystem, aber auch die gediegeneren Kenntnisse der meisten Studienabsolventen.
Vier Fünftel aller Studierenden in den USA gehen nach dem Bachelor in den Beruf, obwohl dieser Abschluss in der Regel keine berufsqualifizierenden Kompetenzen vermittelt. Dies erklärt die hohe Jugendarbeitslosigkeit und die Probleme des Übergangs zwischen Bildungssystem und Berufssystem in Ländern mit angelsächsisch geprägtem Angebot.
Anstrengung trotz Abnahme der Ungleichheit notwendig
Ein Abwracken der vielfältigen deutschen Bildungsangebote zugunsten eines vereinheitlichten angelsächsischen Systems mit nur einem Schultyp die Bedingungen sozialer Mobilität nicht verbessern, sondern verschlechtern. Die Kritik sozialer Ungleichheit, die auch in der sogenannten Wirtschaftselite verbreitet ist, darf daher nicht in ein Plädoyer für angelsächsische Bildungssysteme umgemünzt werden.
Das Fazit sollte vielmehr lauten: Ja, wir müssen uns anstrengen, obwohl die Ungleichheit in Deutschland seit 2005, dem Jahr des Inkrafttretens der Agenda-Reformen entgegen dem internationalen Trend abgenommen hat, während sie zuvor drastisch angestiegen war.
Das Problem: Marginalisierung der unteren Einkommensschichten
Anlass zur Sorge geben allerdings die Marginalisierung der unteren Einkommensschichten, insbesondere derjenigen mit Migrationshintergrund, und die Absetzbewegungen am oberen Rand in Gestalt internationaler Privatschulen und der Verlagerung privaten Vermögens ins Ausland.
In Deutschland sind die Mittelschichten stabiler als anderswo. Dazu trägt bei, dass die Zugehörigkeit nicht von einem akademischen Abschluss abhängt, sondern bei einem Akademikeranteil von weniger als 20 Prozent einen Großteil der Facharbeiterschaft umfasst.
Die für Staaten mit angelsächsischem Bildungssystem charakteristische Zweiteilung zwischen denjenigen, die jobben, und denjenigen, die einen Beruf haben, denjenigen die vom Wirtschaftswachstum abgekoppelt sind und denjenigen, die daran partizipieren, ist für Deutschland untypisch. Bei allen Reformbemühungen sollte dieser Vorteil nicht leichtfertig aufgegeben werden.
Julian Nida-Rümelin
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