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Zehntklässler im Chemieunterricht an einem Gymnasium in Baden-Württemberg. Im Vordergrund stehen Reagenzgläser in einem Gestell.
© Felix Kästle/picture alliance/dpa

Mädchen und Jungen in der Schule: Gemeinsam lernen und Stereotype erkennen

KMK-Präsidentin Stefanie Hubig will Mädchen und Jungen in Mathe und Physik phasenweise getrennt unterrichten. Der Lehrerverband lehnt das ab - mit gutem Grund.

Neu ist die Forderung nicht, Mädchen und Jungen zumindest stundenweise getrennt voneinander zu unterrichten. Was jetzt die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD), in diesem Jahr auch Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), vorgeschlagen hat, wollte die damalige Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) schon 2008 auf die Tagesordnung des "Bildungsgipfels" von Bund und Ländern setzen.

Damals wie heute lautete die Begründung ähnlich. Getrennter Unterricht könnte Mädchen etwa in den Naturwissenschaften die "Schwellenangst" nehmen, meinte Schavan. Und Hubig sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland: „In Klassen ohne Jungen lassen sich Mädchen häufig leichter für Physik begeistern.“ In gemeinsamem Klassen seien Mädchen oft zurückhaltender, während die Jungen nach vorn stürmten und sagten, sie machten das Experiment.

Hubig selber gibt sich experimentierfreudig, wenn es um die Trennung von Schülerinnen und Schülern geht: "Lassen wir uns auf dieses Experiment ein und schauen wir, welches Ergebnis wir bekommen." Wissenschaftliche Studien dazu liegen allerdings längst vor - und sie zeigen, dass die Lernergebnisse durch getrenntgeschlechtlichen Unterricht nicht verbessert werden.

Getrennter Unterricht fördert Geschlechterstereotype

Das zumindest beschrieb ein US-amerikanisches Team von Forschenden 2011 im Fachblatt "Science". Minimale Leistungsvorsprünge monoedukativ unterrichteter Mädchen und Jungen, die einige Untersuchungen aus Großbritannien, Kanada und anderen englischsprachigen Ländern zeigten, ließen die Unterschiede außer Acht, die die Kinder mitbrachten. Insbesondere entschieden sich Eltern leistungsstarker Kinder für die "Single-Sex"-Klassen, von denen sie sich eine bessere Förderung versprachen.

Gilt dies vor allem für den Unterricht in getrenntgeschlechtlichen Schulen oder Klassen, warnte das Team auch vor Nachteilen der Trennung in einzelnen Stunden oder Fächern. Sie lege die Lernenden auf ihre Geschlechtsunterschiede fest. Damit werde kleinen Unterschieden in der Präferenz für Lerninhalte eine zu große Bedeutung gegeben.

Auch die Psychologin Marianne Horstkemper sah damals "keine klaren Belege" für bessere Lernerfolge in getrenntgeschlechtlichen Gruppen. Horstkemper wurde in den 1980er Jahren gemeinsam mit ihrer Kollegin Hannelore Faulstich-Wieland als Erfinderin der "reflexiven Koedukation" bekannt, nach der Mädchen und Jungen in naturwissenschaftlichen Fächern zeitweise getrennt unterrichtet werden sollten.

Altes Konzept der "reflexiven Koedukation" überwunden

Dahinter stand die Annahme, Mädchen würden ohne die Präsenz der dominanten Jungen die Scheu vor Zahlen und Formeln verlieren. Doch Horstkemper revidierte ihre Ansichten spätestens Anfang der 2000er Jahre. Die Trennung helfe nicht dabei, Stereotype der Geschlechter zu überwinden, sondern verstärke sie vielmehr. In Informatik separat unterrichtete Mädchen gingen weiter davon aus, dass die Jungen es besser könnten. Und Jungen, die in Mathe und Physik unter sich blieben, wurden noch selbstbewusster.

Die KMK-Präsidentin könnte sich mit ihrem Vorstoß der phasenweisen Geschlechtertrennung auf das Konzept der "reflexiven Koedukation" beziehen. Doch das gilt in dieser Form als überwunden. Heute steht das Konzept dafür, den Schulunterricht so zu gestalten, "dass sich Mädchen und Jungen gemeinsam all ihrer individuellen Kompetenzen bewusst werden und diese entwickeln können, ohne dabei Einschränkungen durch Geschlechtsstereotype zu erfahren", wie es in der Online-Version des "Dorsch-Lexikon der Psychologie" heißt.

Lehrerverband kritisiert die KMK-Chefin

Der Deutsche Lehrerverband lehnt getrennten Unterricht für Mädchen und Jungen in Fächern wie Mathe oder Physik mit einem ähnlichen Argument ab. Das würde tendenziell wieder zu einem verkrampfteren Verhältnis der Geschlechter führen, dem man durch gemeinsamen Unterricht eigentlich begegnen wolle, sagte Verbandspräsident Heinz-Peter Meidinger der Deutschen Presse-Agentur.

Getrennte Klassen seien zudem auch jetzt theoretisch schon möglich, würden aber vor allem an staatlichen Schulen von Schülern und Eltern abgelehnt.

Hintergrund der Diskussion um eine teilweise Aufhebung der Koedukation ist eine Sonderauswertung der Pisa-Studie. Diese hatte im Januar gezeigt, dass 15-jährige Mädchen am liebsten Lehrerin, Ärztin oder Erzieherin werden wollen, während gleichaltrige Jungen vor allem in technische Berufe streben. Ganz vorn steht bei ihnen der IT-Spezialist vor dem Industrie- und dem Automechaniker.
Meidinger sagte dazu: „Entscheidend ist, dass wir innerhalb der Gesellschaft die beruflichen, geschlechterbestimmten Rollenmuster aufbrechen.“ Studien zeigten zwar, dass Mädchen an reinen Mädchenschulen mehr Selbstbewusstsein in den Naturwissenschaften entwickelten und eher bereit seien, beispielsweise in der Oberstufe Mathe- oder Physikkurse zu wählen. „Es gibt allerdings keinerlei Anzeichen dafür, dass dadurch sich das Berufswahlverhalten ändert.“ (mit dpa)

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