Urteil gegen ehemaligen Auschwitz-Wachmann: Der wohl letzte NS-Prozess in Deutschland
Der frühere SS-Wachmann Hanning wird wegen Beihilfe zum Mord an 170.000 Menschen zu fünf Jahren Haft verurteilt. Ob er die Strafe antreten muss, ist eher fraglich.
Als seine Vergangenheit ihn endgültig einholt, hört Reinhold Hanning der Richterin mit regungslosem Gesicht zu. Wegen Beihilfe zum Mord im nationalsozialistischen Vernichtungslager Auschwitz wird der 94-Jährige vom Landgericht Detmold zu fünf Jahren Haft verurteilt. Es gehe um ein „unfassbares und einzigartiges Verbrechen“, sagt die Vorsitzende Richterin Anke Grudda.
Der SS-Mann Hanning sei knapp zweieinhalb Jahre in wichtiger Funktion in Auschwitz gewesen und habe mit seiner Wachtätigkeit den Massenmord gefördert. Während seiner Zeit im Lager wurden dort mindestens 170 000 Menschen ermordet – „eine unvorstellbare Zahl“, betont die Richterin.
Wie so viele andere Männer der Kriegsgeneration hat Reinhold Hanning über das, was er erlebt und getan hat, geschwiegen. Er wollte Auschwitz unbedingt vergessen. Erst der Detmolder Prozess zwang ihn, sein jahrzehntelanges Schweigen zu brechen. „Ich habe mein Leben lang versucht, diese Zeit zu verdrängen“, ließ er vor Kurzem seinen Anwalt in seinem Namen erklären. Weder mit seiner Frau noch mit seinen Kindern oder Enkeln habe er jemals über Auschwitz gesprochen. „Ich konnte einfach nicht darüber reden. Ich habe mich geschämt.“
„Dass Sie nie an der Rampe gestanden haben, halten wir für völlig abwegig“
Auschwitz sei ein Albtraum gewesen. Doch während in den Aussagen der Überlebenden vor Gericht tatsächlich albtraumartige Bilder lebendig wurden, blieb das Geschehen im Vernichtungslager in Hannings Schilderung vor Gericht seltsam unscharf. Mit dem Massenmord will er nichts zu tun gehabt haben. Er habe immer darauf geachtet, dass er nicht in Auschwitz-Birkenau zum Einsatz kam, wo die Gaskammern und die Krematorien waren.
Er begleitete Häftlinge zu Arbeitseinsätzen außerhalb des Lagers oder bildete mit den anderen SS-Männern eine Postenkette rund um das Lagergelände. An der Rampe, an der die Züge mit Juden aus halb Europa ankamen, sei er nie gewesen. Doch Dokumente zeigen, dass seine Kompanie regelmäßig für Bereitschaftsdienste eingesetzt wurde, auch bei der Ankunft von Zügen. „Dass Sie, Herr Hanning, nie an der Rampe gestanden haben, halten wir für völlig abwegig“, sagte Richterin Grudda.
Wer ist mitschuldig am Massenmord in Auschwitz? Derjenige, der bei der Ankunft der Züge auf der Rampe steht? Derjenige, der die Menschen in die Gaskammern hineintreibt? Derjenige, der das tödliche Zyklon B in die Gaskammern wirft? Oder auch diejenigen, die auf den Wachtürmen des sogenannten Stammlagers stehen, und diejenigen, die Häftlinge zu Arbeitseinsätzen begleiten?
Macht sich jeder SS-Wachmann schuldig, der dazu beiträgt, das Funktionieren des gesamten Lagers Auschwitz zu sichern? Hannings Verteidiger Johannes Salmen argumentierte vor Gericht, sein Mandant habe zu keinem Zeitpunkt Menschen getötet oder dabei geholfen.
Doch das Gericht betont, Hanning sei nicht nur Teil einer verbrecherischen Organisation gewesen, wie er im Prozess zugab, sondern habe sich durch seine Wachtätigkeit selbst an den Verbrechen beteiligt. Er sei auch kein einfacher Wachmann gewesen, sondern habe zur Kerntruppe um den Kompaniechef gehört und damit eine „Schlüsselfunktion“ innegehabt, sagte die Richterin. Gemeinsam mit anderen fronterfahrenen SS-Männern, die er aus dem Einsatz im Krieg kannte, bildete er das „Rückgrat des Wachpersonals“.
In Auschwitz wird er zweimal befördert, am Ende ist er Unterscharführer. „Das kann nur bedeuten, dass Sie sich als willfähriger Gefolgsmann bei der Tötungsarbeit bewährt haben.“
„Das ist ein historischer Moment in der Geschichte der deutschen Justiz“
Selbst wenn er nicht ein einziges Mal an der Rampe gewesen wäre, an dem Ort, von dem aus die meisten Juden direkt in den Tod geschickt wurden, hätte sich Hanning nach der Auffassung des Gerichts mitschuldig gemacht. Denn Gegenstand der Anklage und nun auch des Urteils waren neben dem Mord in den Gaskammern auch die Erschießungen im Stammlager und die „Vernichtung durch die Lebensverhältnisse“: Viele Häftlinge starben an den Folgen von Hunger, Krankheiten und Sklavenarbeit.
Ein Sachverständiger hatte vor Gericht berichtet, was lang andauernder, qualvoller Hunger mit einem menschlichen Körper macht. Dass die Häftlinge verhungerten, sei für jeden auf den ersten Blick erkennbar gewesen, betonte die Richterin.
Es ist das erste Mal in der Geschichte der NS-Prozesse in Deutschland, dass ein Gericht Auschwitz insgesamt als eine Fabrik des Todes begreift. „Das ist ein historischer Moment in der Geschichte der deutschen Justiz“, sagte der Nebenklagevertreter Cornelius Nestler, der Angehörige von Opfern vertritt. „Zum ersten Mal hat ein Gericht gesagt, was wir historisch wissen: dass Auschwitz eine Mordfabrik war.“
Im Foyer des Landgerichts Detmold gehen an diesem Tag wohl auch sieben Jahrzehnte der juristischen Aufarbeitung von NS-Verbrechen zu Ende. Mit dem Schuldspruch gegen Hanning ist mit allergrößter Wahrscheinlichkeit das Urteil im letzten Auschwitz-Prozess in Deutschland gesprochen.
Ein Greis, der im Rollstuhl in den Gerichtssaal gefahren wird und sich für Taten rechtfertigen muss, die er vor mehr als sieben Jahrzehnten begangen hat: Dieses Bild führt zur Frage, warum dieser Prozess jetzt noch geführt wird – und warum erst jetzt. Der Schuldspruch ist auch ein Urteil über die Versäumnisse der deutschen Justiz.
Hätte vor zehn Jahren der Jurist Thomas Walther nicht zufällig im Internet den Fall des früheren SS-Wachmanns John Demjanjuk entdeckt, dann würde Hanning weiter unbehelligt in einem kleinen Ort in Ostwestfalen leben, ohne dass seine Kinder, Enkel und Nachbarn von seiner Vergangenheit in Auschwitz wüssten. Der frühere Amtsrichter Walther war 2006 zur Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg gekommen.
Er solle nur nicht glauben, dass er noch einen Fall zur Anklage bringen würde, sagten ihm seine Vorgesetzten. Doch damit gab sich der Jurist nicht zufrieden. In Ludwigsburg überredete er seinen Chef, dass er doch im Fall Demjanjuk ermitteln durfte. Bis in die Nacht las er die Ermittlungsakten aus den USA, wo Demjanjuk lebte, und suchte akribisch neue Beweise.
Am Ende wurde der frühere Wachmann in München wegen Beihilfe zum Mord verurteilt. Es war das erste Mal seit Jahrzehnten, dass ein deutsches Gericht wieder ein Urteil gegen einen Wachmann in einem Vernichtungslager fällte. Die deutsche Justiz hatte nach dieser NS-Tätergruppe gar nicht mehr gesucht, lange wurden nur diejenigen verfolgt, denen ein ganz konkreter Mord nachgewiesen werden konnte.
Für die Überlebenden ist der Prozess eine Genugtuung
Aus Sicht des Juristen Walther und seines Mitstreiters Nestler sollte das Demjanjuk-Verfahren nur der Anfang sein. Viele weitere Prozesse würden folgen. „Am Ende wurden es nur wenige“, sagt Walther heute. Die Justizbehörden reagierten oft nur langsam. Schleppend lief nach dem Münchner Urteil die Suche nach noch lebenden SS-Wachleuten an. Im vergangenen Jahr wurde der frühere „Buchhalter von Auschwitz“, Oskar Gröning, in Lüneburg zu vier Jahren Haft verurteilt.
Weitere Verfahren wird es wohl nicht mehr geben. Ein früherer SS-Sanitäter und eine ehemalige Funkerin sind zwar angeklagt, doch beide wurden für derzeit nicht verhandlungsfähig erklärt.
Doch warum einem 94-Jährigen noch den Prozess machen, der wohl ohnehin nicht mehr ins Gefängnis muss? Warum einen Wachmann vor Gericht stellen, nachdem so viele ranghohe SS-Offiziere nie belangt wurden? Die einfache juristische Antwort lautet: Mord verjährt nicht – und damit auch nicht Beihilfe zum Mord. Ein Staatsanwalt, der von einer solchen Tat erfährt, muss ermitteln.
Richterin Grudda hat aber auch eine nicht juristische Antwort: „Wer die Aussagen der Nebenkläger gehört hat, kann die Frage der Notwendigkeit eines solchen Verfahrens nur eindeutig mit Ja beantworten.“ Für die Angehörigen der Ermordeten und für die Überlebenden, die in Detmold als Nebenkläger auftraten, bedeutete dieser Prozess viel.
Endlich wurde der Mord an ihren Eltern und Geschwistern vor einem deutschen Gericht verhandelt. Es sei den Nebenklägern zu verdanken, dass die Opfer eine Stimme und ein Gesicht bekommen hätten, betonte Grudda.
„Nach mehr als 70 Jahren ist endlich Gerechtigkeit geschehen“, sagte die Auschwitz-Überlebende Hedy Bohm nach der Urteilsverkündung unter Tränen. Für sie sei an diesem Tag ein Traum wahr geworden. Der Prozess sei spät gekommen, sagte Walther, der sie vor Gericht vertreten hat. „Aber es war nicht zu spät, für die Ermordeten Gerechtigkeit zu erkämpfen.“