30 Jahre Historikerstreit: Die Vergangenheit, die doch vergeht
Vor 30 Jahren begann der „Historikerstreit“ um die Singularität des Holocausts. Resümee einer dramatischen geschichtspolitischen Auseinandersetzung.
„Vergangenheit, die nicht vergehen will.“ Mit dieser Artikelüberschrift begann vor 30 Jahren eine Debatte, die alsbald den Namen „Historikerstreit“ tragen sollte. Verfasser des Artikels, der am 6. Juni 1986 in der „FAZ“ erschien, war der heute 93-jährige Ernst Nolte, damals Professor für Neuere Geschichte am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin. Zum Zankapfel wurde der Beitrag durch die Aufmerksamkeit, die ihm der Philosoph Jürgen Habermas angedeihen ließ.
Auf Noltes Artikel in der "FAZ" antwortete Habermas in der "Zeit"
Von ihm erschien einen Monat später in der „Zeit“ ein umfangreicher Beitrag unter dem Titel „Eine Art Schadensabwicklung“, der sich, weit über Nolte hinaus, mit „apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung“ auseinandersetzt, wie der Untertitel besagt. Nolte kommt darin erst in einem dritten Kapitel vor; vielmehr sind zunächst zwei Koryphäen der deutschen Geschichtswissenschaft. Ziel der Auseinandersetzung. Bei Andreas Hillgruber, vor allem aber dem tagespublizistisch aktiven Michael Stürmer sah Habermas den Versuch einer Rechtfertigung oder zumindest Sinngebung des Krieges an der Ostfront, und erst über diesen Umweg kommt er auf den Völkermord an den Juden und damit zu Nolte.
Sätze, die den Atem stocken ließen
Der hatte nun allerdings in seinem Beitrag ein paar Sätze geschrieben, die den Atem stocken ließen. Es müsse, so Nolte, „die Frage als zulässig, ja unvermeidbar erscheinen: Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine ,asiatische‘ Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer ,asiatischen‘ Tat betrachteten? War nicht der ,Archipel GULag‘ ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der ,Klassenmord‘ der Bolschewiki das logische und faktische Prius des ,Rassenmords‘ der Nationalsozialisten?“
Diesen „kausalen Nexus“ auch nur in Frageform zu formulieren, machte Nolte zur wissenschaftlichen Unperson. Da mochte Joachim Fest, Mitherausgeber der „FAZ“ und durch seine monumentale Hitler-Biografie ausgewiesener Kenner der Materie, darauf hinweisen, dass Wissenschaft „entweder dauernde Revision oder gar nicht ist“. Es half nicht gegen das Urteil, Nolte bestreite die Singularität der nationalsozialistischen Verbrechen und strebe die Revision des in der Bundesrepublik etablierten Geschichtsbildes an. Karl Dietrich Bracher, der ebendies mit seiner bahnbrechenden Gesamtdarstellung „Die deutsche Diktatur“ von 1969 maßgeblich geprägt hatte, sah in der aufgeflammten Debatte „wissenschaftlich nichts wirklich Neues“ und beklagte seinerseits – aber das wurde nicht weiter aufgegriffen –, „mit der Ächtung des Totalitarismusbegriffs wurde das Gemeinsame rechts- und linksdiktatorischer Unterdrückungssystems ausgeblendet“.
Joachim Fest versuchte zu vermitteln
Fest suchte zu Noltes Argumentation eine Brücke zu bauen, indem er schrieb: „Man muss nicht der Auffassung sein, dass Hitlers Vernichtungswille ganz überwiegend von der Vernichtungsdrohung der russischen Revolution inspiriert war; er kam, dem Ursprung nach, doch eher aus den frühen Ängsten und Überwältigungsphantasien des Deutsch-Österreichers. Aber dass er gänzlich unbeeinflusst davon blieb, lässt sich schwerlich denken, und jedenfalls ist die Resonanz, die seine lange Zeit einsamen Wahnideen fanden, ohne die panischen Empfindungen, die sich von Russland her ausbreiteten und die München im Frühjahr 1919 immerhin gestreift hatten, nicht zu begreifen.“
Ungute Zuspitzung
Eben diese Frage, die Nolte so ungut – auch gegen eigene, frühere Erkenntnisse – zugespitzt hatte und die Fest auf ihren sachlichen Kern zurückführte, ist im Historikerstreit über das Bekenntnishafte der Verurteilung des NS-Regimes hinaus nicht ernsthaft diskutiert worden. Freilich lagen seinerzeit wichtige Detailstudien noch nicht vor. Noch Fest hatte in seiner Hitler-Biografie 1973 geschrieben: „Diese alte Angst sah sich nicht nur durch die revolutionären Erscheinungen im eigenen Lande aktualisiert, sondern vor allem durch die russische Oktoberrevolution und die von ihr ausgehende Drohung. Die Schrecken des Roten Terrors, vielfach dämonisiert und vor allem von den in München zusammenströmenden Flüchtlingen und Emigranten zu Schlachtfesten eines blutrünstigen Barbarentums aufgebauscht, beherrschten leidenschaftlich die nationale Phantasie.“
Das war eher dem Augenschein der Ereignisse geschuldet als der genauen Kenntnis von Hitlers Werdegang. Erst Brigitte Hamann leuchtete 1996 in „Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators“ das antisemitische Milieu der Habsburger-Hauptstadt und ihrer Lokalpolitik aus. Vor wenigen Wochen folgte Thomas Webers Studie „Wie Hitler zum Nazi wurde“ über dessen Jahre unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg. Weber belegt anhand umfangreicher Quellen, dass Hitler von der Revolution und der Münchner Räterepublik mitnichten abgestoßen wurde, sondern sich erst bei der Abfassung von „Mein Kampf“ im Jahr 1924 die Rechtfertigung seines Vernichtungswillens durch die Revolution von 1919 zurechtlegte.
Von einem "kausalen Nexus" in Hitlers Denken kann keine Rede sein
Von einem „kausalen Nexus“ kann in Hitlers Denken keine Rede sein, geschweige denn in der Politik des Regimes im Zuge der Radikalisierung nach Kriegsbeginn 1939. Aus dem Blick geriet bei dem Streit um diesen Terminus allerdings, dass der industriell betriebene Massenmord der Nazis seinen Vorläufer in den Materialschlachten des Ersten Weltkriegs besaß. Eine Erfahrung, die Millionen von Frontsoldaten hatten machen müssen und die die Vorstellung eines individuellen Schicksals im Krieg, schon gar eines „Heldentods“, ad absurdum führte.
Dass nach 1918 mit der Erkenntnis oder eher dem dumpfen Gefühl, die von jedem Einzelnen erbrachten Opfer des Krieges seien vollständig sinnlos gewesen und zur bloßen Statistik der Militärs verdampft, wohl auch die Achtung des Lebens überhaupt auf später furchtbar wirkungsmächtige Weise gesunken war, kam nicht zur Sprache, obgleich es mentalitätsgeschichtlich bedeutend ist.
Habermas und der Verfassungspatriotismus
Es ging, jedenfalls in der von Habermas vorgezeichneten Argumentation, tatsächlich um etwas ganz anderes. In jenen Jahren um 1986, als über Ziel und Notwendigkeit eines bundesdeutschen Geschichtsmuseums gesprochen wurde, wuchsen Bedenken vor einem regierungsamtlich verordneten Geschichtsbild. Noch konnte niemand ahnen, dass nur drei Jahre später die Frage nach dem deutschen Nationalstaat neu gestellt werden würde, noch galt als intellektueller Konsens, diese Frage als für immer erledigt abzuweisen. Eben darauf zielte Habermas, indem er eine gänzlich anders gelagerte Identität bekräftigte: „Die vorbehaltlose Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens ist die große intellektuelle Leistung unserer Nachkriegszeit“, und etwas weiter: „Der einzige Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet, ist ein Verfassungspatriotismus.“
Habermas ist fortan mit diesem Begriff identifiziert worden, er stammt indes von dem weitgehend vergessenen, in den Anfangsjahrzehnten der Bundesrepublik indessen viel gelesenen Dolf Sternberger. Dann fügt Habermas an: „Eine in Überzeugungen verankerte Bindung an universalistische Verfassungsprinzipien hat sich leider in der Kulturnation der Deutschen erst nach – und durch – Auschwitz bilden können.“ Er schließt: „Wer die Deutschen zu einer konventionellen Form ihrer nationalen Identität zurückrufen will, zerstört die einzig verlässliche Basis unserer Bindung an den Westen.“
Die Rückkehr der nationalen Identität
Der Historikerstreit von 1986 hat keine Fortsetzung gefunden, er ist selbst als bloßes Reizwort nachgerade verschwunden. Denn die von Habermas als Schreckbild gemalte „konventionelle Form“ nationaler Identität kam durch den Glückszufall der deutschen Wiedervereinigung so oder so auf die Tagesordnung, und mit dem Wegfall der antagonistischen Zweistaatlichkeit entfiel die von der intellektuellen Linken bis dahin so gerne beschworene Rechtfertigung aus einem nicht etwa vergangenen, sondern eigentümlich gegenwärtigen Nationalsozialismus.
Ausgerechnet Hagen Schulze, auch er einer der von Habermas unter Generalverdacht gestellten Historiker, antwortete damals, „nationale Identität“ heiße „in diesem Zusammenhang einfach, dass die Gegenwart der Bundesrepublik nicht ausreicht, um hinreichend zu erklären, weshalb dieser Staat so und nicht anders ist“. Die Identität der Deutschen sei „nur dann hinreichend zu erklären, wenn man ihre historischen Entwicklungsbedingungen kennt“.
Die Positionen von damals haben sich erledigt
Das ist nun zwar so richtig wie banal, doch es sind eben diese besonderen Bedingungen, die – anders als die konkrete Vergangenheit der NS-Zeit – nicht vergehen: das Bewusstsein der im deutschen Namen begangenen Verbrechen und die Folgerungen, die daraus für die Konstitution der Bundesrepublik gezogen worden sind. Und keine rituelle Beschwörung der „Singularität“ der NS-Verbrechen – was insofern gehaltlos ist, als jedes historische Ereignis per se singulär ist – bewahrt davor, den Bezug auf die deutsche Geschichte immer wieder neu zu reflektieren. Nur in diesem Sinne vergeht Vergangenheit nie, und eben darin hatte der Historikerstreit seinen Sinn, auch wenn sich die Positionen von damals schlichtweg erledigt haben.
Bernhard Schulz