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SPD-Legende und Vater des Wandels durch Annäherung: Egon Bahr.
© dpa

Laudatio des Schweizer Botschafters Guldimann: Egon Bahr, der Schrittmacher der Wiedervereinigung

Ehrung des Deutsch-Russischen Forums: Der Schweizer Botschafter Tim Guldimann würdigt den SPD-Politiker Egon Bahr.

Ich möchte meine Dankbarkeit für den Entscheid des Deutsch-Russischen Forums zum Ausdruck bringen, Egon Bahr zu ehren. Dieser Entscheid richtet unseren Blick auf eine Epoche der europäischen Geschichte, die auch von einer Konfrontation geprägt war. Die damalige Konfrontation erschien Anfang der 60er Jahre noch aussichtsloser und gefährlicher als die momentane Situation. Uns heute an die Leistungen von Egon Bahr zu erinnern, erfüllt uns mit der Hoffnung, dass auch in der schwierigsten Ausgangslage eine Konfrontation einer friedlichen Lösung zugeführt werden kann. Es ist diese Hoffnung, die Egon Bahr mit seinem Lebenswerk in die heutige Debatte einbringt. Und es ist diese Hoffnung, die wir in der aktuellen Krise unseren Enttäuschungen, ja bisweilen unserer Ratlosigkeit, entgegenhalten müssen.

Damit möchte ich mich gleichzeitig gegen Argumente verwahren, die unser heutiges Anliegen, an die Leistung von Egon Bahr zu erinnern, zu entwerten suchen. Dazu gehört das Etikett „Russland-Versteher“. Ich halte es für sehr bedenklich, wenn in der politischen Debatte die Wörter „verstehen“ und „Verständnis“ negativ konnotiert werden. Das geschieht vor allem dadurch, dass der Unterschied zwischen „Verständnis von“ und „Verständnis für“ absichtlich verwischt wird. Ich bemühe mich um ein Verständnis von Russland, auch um ein Verständnis von den russischen Motiven, die Krim zu besetzen. Es geht damit auch um das Verständnis der russischen Sichtweise auf die Vorgeschichte. Ich habe aber kein „Verständnis für“ den Bruch des Völkerrechts durch diese Annexion und für die militärische Intervention in der Ostukraine.

Werfen wir von der heutigen Situation den Blick zurück auf die Zeit, in der Egon Bahr zusammen mit Willy Brand seine Ostpolitik verwirklichte. Es ist die Zeitspanne vom Bau der Mauer bis zur Schlussakte von Helsinki 1975. Die Verständigung zwischen Ost und West konnte eine gefährliche Konfrontation überwinden.

Egon Bahr bezeichnete sich als Willy Brandts Kammerdiener, der er nicht war. Einen Kammerdiener hätte Leonid Breschnew nicht zu einem vierstündigen Gespräch unter vier Augen empfangen und ihn mit den Worten begrüßt: „Ich spreche mit Ihnen wie mit dem Kanzler.“

Im Gegenüber des Kalten Krieges respektierten sich beide Seiten auf Augenhöhe. Beide vertraten aber zwei ganz unterschiedliche Gesellschaftsmodelle mit gegensätzlichen Ideologien, die jede für sich universelle Geltung behauptete. Die heutigen Spannungen mit Russland sind keine Rückkehr zum Kalten Krieg, schon gar nicht zur Zeit der Verständigung in den siebziger Jahren.

Heute wird nicht an universelle Werte appelliert

Die Annexion der Krim hat Grenzen verletzt und widerspricht dem zentralen Grundsatz der damaligen Verständigung. Die heutige Position Moskaus ist natürlich auch ideologisch begründet, sie kann aber kaum mehr an universelle Werte appellieren. Eine „Déjà-vu“-Perspektive bietet sich heute nur oberflächlich an. Sie verkennt die grundsätzlichen Unterschiede und verleitet zu falschen Folgerungen. Trotzdem gibt es Erfahrungen aus den Kalten Krieg, die an die jüngste Entwicklung erinnern. Und es gibt Einsichten aus jener Zeit, die auch unter den heutigen Bedingungen nützlich bleiben.

In der Ukrainekrise erleben wir heute eine selbstständige deutsche Außenpolitik, welche die Verständigung mit Russland vorantreibt. Ohne Berlin wäre dieser Konflikt wohl längst außer Kontrolle geraten.

Egon Bahr hat in seiner Rede im Juli 1963 den Begriff geprägt: „Wandel durch Annäherung.“ Das war mutig. Bahr hat gesagt, die Akzeptanz des Status quo wäre die Voraussetzung seiner Überwindung. Das bringt uns zur Frage: Wie gehen wir im aktuellen Konflikt mit den russischen Positionen so um, dass wir das Völkerrecht nicht verraten, gleichzeitig aber eine Verständigung mit Russland voranbringen?

Damit sind wir beim zentralen Begriff der europäischen Aufklärung: Verständigung. Wie können wir die Voraussetzungen definieren, unter denen sich Menschen mit unterschiedlichen Positionen verständigen können? Darüber diskutiert die deutsche Philosophie – von Moses Mendelssohn bis Jürgen Habermas – seit 250 Jahren. Ich glaube, daraus verstanden zu haben, dass es vor allem um drei Bedingungen geht. Erstens müssen alle Betroffenen die gleichen Chancen haben, sich an der Diskussion für eine Verständigung zu beteiligen. Zweitens müssen die Beteiligten gleichberechtigt sein oder sich zumindest gegenseitig respektieren. Die dritte Bedingung ist, dass eine Verständigung weder durch Zwang noch durch Gewalt – und auch nicht durch deren Androhung – herbeigeführt werden kann.

Im kommenden Jahr übernimmt Deutschland die Präsidentschaft der OSZE. Auch im Hinblick auf diese Rolle Deutschlands erhält die heutige Ehrung des Lebenswerkes von Egon Bahr eine besondere Bedeutung: Der Erfolg der Ostpolitik mit den Verträgen mit Moskau, mit Warschau und mit Ostberlin war der Grundstein für die Schlussakte von Helsinki und damit für die heutige OSZE. Bahr hat den historisch belasteten vier Worten „von deutschem Boden aus“ eine neue friedenspolitische Bedeutung für Europa gegeben. Die weitere Perspektive seiner Leistung prophezeite ihm sein Kontaktmann im russischen Außenministerium, Waleri Lednew, kurz vor der Vertragsunterzeichnung in Moskau vor 43 Jahren. Er sagte: „Ich weiß nicht, ob Deutschland eines Tages wiedervereinigt wird, aber wenn, dann haben Sie den ersten Schritt gemacht.“

Tim Guldimann hielt die Laudatio anlässlich der Verleihung des Friedrich-Joseph-Haass-Preises an Egon Bahr im Hotel Adlon. Dies ist eine gekürzte Fassung.

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