zum Hauptinhalt
SPD-Spitzenkandidat Martin Schulz.
© dpa
Update

Martin Schulz statt Sigmar Gabriel: Der Vorwärtsversuch der SPD

Sigmar Gabriel überrascht mal wieder alle und sagt: Martin Schulz habe die besten Chancen zu gewinnen. Vielleicht auch deshalb, weil sein Leben zum Wahlkampf der SPD passt – er hat selbst schon in den Abgrund gesehen.

Als sich am Dienstagnachmittag noch alle in der SPD-Fraktion an die Regeln halten wollten, hatte ihr Urheber sie bereits gebrochen. Die Partei war seit Monaten dazu verdonnert worden, dass es ein, wie Sigmar Gabriel betont hatte, „ordnungsgemäßes Verfahren“ gebe und Gremien informiert werden müssten, bevor er dann den Vorschlag unterbreiten werde, wer für die Sozialdemokraten in den Bundestagswahlkampf ziehen wird.

Thomas Oppermann, der SPD-Fraktionschef im Bundestag, ist gegen 15 Uhr dementsprechend kurz angebunden im Reichstag, wo sich turnusgemäß die Fraktionen treffen, und er witzelt mäßig gut gelaunt: „Ich will Ihnen die Spannung nicht nehmen.“ Frank-Walter Steinmeier, der bald Bundespräsident werden wird, weiß zu diesem Zeitpunkt, das darf man so annehmen, ebenso wenig wie Oppermann und andere, was der Parteichef bereits entschieden hat. Hinein in diese sozialdemokratische Gutgläubigkeit platzt dann die Nachricht, dass Gabriel zurücktreten und Außenminister werden wird und dass sein Freund Martin Schulz das Amt des Parteichefs und des Spitzenkandidaten übernimmt.

Zumindest die Art und Weise ist, wenn man so will, ein letzter Affront Gabriels gegenüber seiner Partei. Der „Stern“ und die „Zeit“ sind es, denen er die Nachricht als erstes verraten hat. Sie verbreiten diese Überraschung und nicht die Gremien der SPD. Fraktion und Parteipräsidum informiert Gabriel erst kurz danach. Thomas Oppermann ist jedenfalls genötigt, nochmals vor die Presse zu treten, und sagt: „Es tut mir leid, dass ich Sie vorhin nicht besser informieren konnte.“ Bis hinein in die Parteispitze sind die Genossen über dieses Prozedere verärgert.

Abgrunderfahren und bürokratiegestählt

Vielleicht passt dieser Tag symbolisch ganz gut zum Charakter des Sigmar Gabriel. Sein Nachfolger kennt diesen Charakter auch ganz gut. Vor einigen Jahren saß Martin Schulz mit Journalisten in einem Restaurant im Berliner Regierungsviertel. Als die Rede auf Gabriel kommt, sagt Schulz in seiner Aachener Mundart, dass ihm der Sigmar manchmal vorkomme wie ein dickes Kind, das mit dem Hintern einreißt, was es zuvor mühsam aufgebaut habe.

Am Dienstagabend um 19 Uhr 41 steht Martin Schulz im Willy-Brandt-Haus wieder Journalisten gegenüber, aber natürlich sagt er jetzt ein paar andere Dinge und über Gabriel nur Gutes. Zur Wahrheit gehört, dass dieser Rücktritt Gabriels auch eine Befreiung für die Partei ist. Und somit kann dieser Affront gleichzeitig als ein großer Akt der Selbsterkenntnis gelesen werden, zu dem nicht jeder Politiker fähig wäre.

Schulz steht wie Gabriel im schwarzen Anzug auf dem Podium, hört aufmerksam zu, wie Gabriel begründet, warum er nun einmal der bessere Kandidat sei, was man auf den Satz reduzieren kann: „Er hat einfach die besten Chancen.“ Dem designierten Parteichef ist anzumerken, dass selbst für einen so erfahrenen Europa-Politiker diese Situation irgendwie auch unangenehm ist. Aber Schulz soll ja nicht nur ein neues Gesicht sein, sondern seine ganze Person passt womöglich auch am besten zu dem Wahlkampf, den die Sozialdemokraten nun führen wollen. Schulz deutet das am Dienstag nur an. Natürlich gehe es darum, dass die SPD wieder die Partei sein wolle, die sich um die Ängste der Menschen kümmert, um die, wie er sagt „Gesellschaft“, die „immer weiter auseinander driftet.“

SPD-Chef Sigmar Gabriel wird Außenminister.
SPD-Chef Sigmar Gabriel wird Außenminister.
© dpa

Martin Schulz ist kein klassisches Arbeiterkind, aber er steht schon für die ur-sozialdemokratische Erzählung. Er war ein Gescheiterter, der wieder aufstehen durfte. Und wollte.

Einer von diesen unzähligen Sätzen, die er in seinem Leben als Politiker gesagt hat, ist besonders hilfreich, um etwas über ihn zu lernen: „Mit Anfang 20 war ich der durchgeknallteste junge Mann in ganz Deutschland.“ Offensichtlich kennt sich dieser Mann ganz gut aus mit dem Leben und den Menschen und den Schicksalen, die einem auf dieser Welt widerfahren können. Es gibt da eine Nähe zu den normalen Menschen, eine Erdung aus Erfahrung, auch das lässt dieser eine Satz erahnen. Das Menschliche, sein Bemühen darum, wird ihm niemand absprechen, auch wenn Martin Schulz beruflich aus Brüssel kommt, aus einer europäischen Institution, zu der den Bürgern Europas immer weniger Menschliches einfallen mag. Das ist ein Widerspruch, den er nun aufzulösen hat.

Aber bleiben wir bei dem Abgrund, den der heute 61-Jährige erlebte: Geboren ist er 1955 in Hehlrath, das heute zur Stadt Eschweiler gehört, der Vater Polizeibeamter, stammte aus kleinen Verhältnissen, die Mutter dagegen, eine Bürgerliche, war Gründungsmitglied der CDU in ihrer Heimatstadt Würselen bei Aachen. Der junge Martin Schulz war kein Angepasster, er flog vom katholischen Gymnasium, weil er zweimal sitzen geblieben war. Er war ein wütender Teenager, der nichts anderes wollte als Fußball spielen, und der wie so viele davon träumte, Fußballprofi zu werden. Was nicht klappte. Stattdessen Sportinvalide mit 20 und schließlich Alkoholiker.

Die Geschichte ist schon oft erzählt worden, aber jetzt, als Kanzlerkandidat, macht sie vielleicht so viel Sinn wie nie.

Schulz besitzt eine klassische sozialdemokratische Vita

Schulz hat irgendwann, als er schon ein etablierter Politiker war, angefangen, offen darüber zu sprechen. Der „Bunten“ sagte er: Das Schlimmste sei gewesen, wenn man morgens mit dem Gefühl aufwache, versagt zu haben. Er habe alles getrunken, was er kriegen konnte. Täglich nehme man sich vor, es besser zu machen. Schaffe es aber auch am nächsten Tag nicht. „Das ist ein deprimierendes Gefühl. Solche Prozesse brechen dir langsam das Rückgrat.“

Er wollte sich umbringen, jetzt will er Kanzler von Deutschland werden.

Es gibt andere Sätze von ihm, die noch mehr über seinen Charakter erzählen. Über sein Selbstbewusstsein, das er mitbringt. Bodenständig, abgrunderfahren und bürokratiegestählt – das ist eine Erzählung, die sich in Sympathie auszahlen könnte und in Wählerstimmen. Im September 2016 spricht Martin Schulz nicht im EU-Parlament, sondern im ZDF mit dem Philosophen Richard David Precht. Schulz redet in dieser Sendung so wie ein Sozialdemokrat reden muss, er sagt, man müsse die Demokratie gegen die ökonomischen Wettbewerber verteidigen, er fordert mehr „Verteilungsgerechtigkeit“. Dann aber definiert er den modernen Politiker, von dem er erwartet, dass er in diesen unsicheren Zeiten bestehen kann. Wer den Menschen eine glaubhafte Erzählung vermitteln wolle, sagt er, müsse etwas mitbringen, um diese Menschen zu überzeugen. „Das ist Authentizität. Sie dürfen nicht scheinen als ob. Sie müssen so sein, wie Sie es sagen.“ Und: „Es muss wieder mehr von diesen mutigen Typen geben.“

Martin Schulz ist selbstbewusst genug, sich für einen solchen Typen zu halten.

Sigmar Gabriel wird über sich nicht anders denken, er wird schon auch glauben, dass er alle diese Eigenschaften mitbringt, die Schulz fordert und für sich beansprucht. Aber wenn die Sozialdemokraten es in diesem Duell gegen diese erfahrene Kanzlerin Angela Merkel wirklich ernst meinen mit ihrer neuen-alten sozialdemokratischen Erzählung, dann muss sie natürlich jemand erzählen, der zumindest den Anschein des Neuen mitbringt. Gute Umfragewerte gehören vielleicht dazu, aber sie reichen gewiss nicht aus.

Am Abend in der SPD-Parteizentrale zeigt der scheidende Parteichef nochmals alle seine Seiten: die ehrliche, die rotzige und die irritierende. Er behauptet, dass man doch alles wie angekündigt gemacht habe; dann wiederum gibt er an die Presse gerichtet zu, dass „ich Sie ein bisschen überrascht habe“ – und natürlich freut er sich darüber. Schulz wiederum ist es, der auf Nachfrage verrät, dass Gabriel ihm am vergangenen Samstag in einem Gespräch seine Entscheidung mitgeteilt habe. Gabriel räumt ein, dass er es der SPD nicht immer leicht gemacht hat, aber die SPD es auch ihm nicht, was jetzt wie eine Phrase klingt.

Martin Schulz muss nun die Menschen für sich gewinnen

Dann aber sagt er noch: „Natürlich gibt es Ambitionen und Leidenschaften. Auch bei mir.“ Vielleicht ist das der Satz des Abends, der tief hineinblicken lässt in die Seele des Sigmar Gabriel; auch in eine verwundete.

Neben ihm, das sieht man, spürt Schulz die Verantwortung, die da jetzt auf ihm lastet. Wenn er redet, hat er meistens zwei Seiten, eine gewisse Grundfröhlichkeit, die immer mal durchblitzt, und etwas Seelsorgerisches. In diesem Geist ist er normalerweise unterwegs, landauf, landab, stocknüchtern, abstinent seit Jahrzehnten, trotzdem unverwüstlich rheinisch. Vielleicht ist es vor allem dieser Wesenszug, der ihn am allermeisten von Olaf Scholz unterscheidet, dem Hamburger Bürgermeister, der es auch hätte werden können. Martin Schulz muss nun zeigen, dass er nicht nur Menschen mag, sondern sie auch für sich gewinnen kann.

Mitarbeit: has, cas, hmt, bib

Der Tagesspiegel kooperiert mit dem Umfrageinstitut Civey. Wenn Sie sich registrieren, tragen Sie zu besseren Ergebnissen bei. Mehr Informationen hier.

Zur Startseite