Habitat-Konferenz zur Zukunft der Städte: Der Umzug der Menschheit
Die Regierungsberater vom WBGU fordern mehr Verantwortung und Planungsfreiheit für die Städte der Welt. Denn dort entscheide sich die Zukunft der Erde.
Alle 20 Jahre entdeckt die internationale Politik die Städte wieder. Im Vorfeld des erst dritten Welt-Städte-Gipfels, UN-Habitat III im Oktober in Quito, arbeiten Zehntausende Wissenschaftler, Kommunalpolitiker, Praktiker daran, der Stimme der Städte in der Welt Gehör zu verschaffen.
Erst am Montag haben die Staaten der Europäischen Union in Amsterdam einen Pakt unterzeichnet, der den Städten in der EU eine wichtigere Rolle verschaffen und sie als Umsetzungsinstanz für die Klimapolitik und die Erreichung der globalen Nachhaltigkeitsziele (SDGs) stärken soll. Mit vier europäischen Bündnissen, die bereits auf den Weg gebracht worden sind, wollen die Städte ihre Probleme mit der Luftqualität angehen, die Wohnungssituation verbessern, die Armut in den Städten bekämpfen und Einwanderer und Flüchtlinge besser integrieren. Der Pakt soll es den Städten zudem erleichtern, EU-Fördermittel abzurufen. Außerdem soll der Erfahrungsaustausch besser werden.
Das passt gut zu den Forderungen, die der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) im April in seinem Städte-Gutachten „Der Umzug der Menschheit: Die transformative Kraft der Städte“ formuliert hat.
In Europa leben bereits 70 Prozent der Menschen in Städten, allerdings nicht nur in Großstädten sondern auch in vielen kleineren Städten. Das hält der WBGU für weniger umweltzerstörerisch als das Leben in Großstädten. Der Ressourcenverbrauch sei kleiner, eine Stadt der kurzen Wege mit geringerem Verkehrsaufkommen sei möglich, und der Kohlendioxid-Ausstoß sei geringer, argumentieren die Professoren. Deshalb lautet eine der WBGU-Forderungen auch, eine „polyzentrische Urbanisierung“ zu fördern. Also zu verhindern, dass alles auf ein großes Entwicklungszentrum zuläuft, wie beispielsweise auf London in Großbritannien.
Die Bevölkerung von Accra verdoppelte sich, die Fläche wuchs um das Dreifache
Für die Welt erwartet der WBGU einen Anteil von Städtebewohnern von etwa zwei Dritteln in den kommenden zwei bis drei Jahrzehnten. Besonders in Afrika verläuft die sogenannte Urbanisierung in einem nie gekannten Tempo. Im aktuellen African Economic Outlook schreibt die Afrikanische Entwicklungsbank, dass sich die Stadtbevölkerung auf dem Nachbarkontinent zwischen 1995 und 2015 verdoppelt hat. 472 Millionen der eine Milliarde Afrikaner lebt aktuell schon in den Städten.
Als Beispiel wird die Hauptstadt Ghanas, Accra, genannt. Von 1991 bis 2000 stieg die Bevölkerung Accras von 1,3 Millionen auf 2,5 Millionen Menschen an. Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate lag demnach bei 7,2 Prozent. Der Bericht, den die Entwicklungsbank mit dem Industriestaatenbündnis OECD und dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) vorgelegt hat, liefert auch gleich noch einen Beleg dafür, warum ein so rasantes Wachstum ohne Stadtplanung ein ökologisches Problem ist: Die Stadtfläche Accras hat sich im gleichen Zeitraum nämlich verdreifacht. Von 10.000 Hektar auf 32.000 Hektar. Diese Zersiedelung ist aber nicht nur ein Umweltproblem, sie ist auch ziemlich teuer – für die Städte und vor allem für ihre Bewohner.
„Das Wachstum der Städte ist so ungeheuer, dass es dringend in neue Bahnen geleitet werden muss“, sagte der WBGU-Vorsitzende Dirk Messner bei der Vorstellung des knapp 500 Seiten starken Gutachtens. Der Direktor des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE) leitet den WBGU gemeinsam mit Hans Joachim Schellnhuber, dem Direktor des Potsdam Instituts für Klimafolgenforschung (PIK).
Megastädte müssten sich "entdichten"
Schellnhuber beschrieb das Strukturproblem der Megastädte bei der Vorstellung des Gutachtens am Beispiel von Hong Kong. Diese Stadt sei „in ihrer extremen Verdichtung nur lebensfähig, weil sie Erdöl, Metalle, Lebensmittel aus dem Umland und der ganzen Welt aufsaugt, verdaut und die Rückstände wie Müll, Schmutzwasser, Abgase ins Umland ausstößt“.
Er erwartet, dass die Dezentralität der Energieerzeugung mit erneuerbaren Energien wie Solarstrom, der Kreislaufwirtschaft, wenn der Müll nicht entsorgt sondern als Rohstoff wieder verwertet wird und der digitalen Ökonomie zu einer „Entdichtung“ von solchen Megastädten führen werde. „Die polyzentrische Integration in Regionen wie das sich neu erfindende deutsche Ruhrgebiet oder die San Francisco Bay Area können Modelle für die Urbanität der Zukunft sein“, hofft Schellnhuber.
Dirk Messner machte klar, warum der Satz, dass sich die Zukunft der Erde in den Städten entscheide, auch aus Klimasicht keine Floskel ist. Denn jede Investition in städtische Infrastruktur – von der Straßenbahn bis zu Autobahn, von der Kläranlage bis zu den Häusern – legt die Treibhausgasemissionen über Jahrzehnte fest.
Messner führte aus, dass der Aufbau einer Infrastruktur wie in New York, Schanghai oder London in den schnell wachsenden Städten der Schwellen- und Entwicklungsländer schon allein für die dafür nötige Stahl- und Zementproduktion das global noch vorhandene Emissionsbudget für die Zielmarke 1,5 Grad aufbrauchen würde. Beim Pariser Klimagipfel haben 193 Staaten beschlossen, die globale Erwärmung im Vergleich zum Beginn der Industrialisierung unter zwei Grad, wenn möglich unter 1,5 Grad, halten zu wollen.
Messner plädierte für alternative Baustoffe wie etwa Holz. Selbst Hochhäuser lassen sich heute sicher aus Holz bauen. In Wien soll mit 24 Stockwerken ab Herbst das höchste Hochhaus der Welt in Holzbauweise errichtet werden. 2018 sollen die Mieter einziehen können.
Bis 2050 könnte sich die Zahl der Slumbewohner weltweit um ein bis zwei Milliarden Menschen vergrößern
Zugleich ist Messner aber auch bewusst, dass das Leben in den globalen Slums vielerorts ziemlich unzumutbar ist. Der WBGU beschreibt die Wohnverhältnisse von 850 Millionen Menschen als katastrophal. In Afrika südlich der Sahara lebten sogar zwei Drittel der Stadtbewohner in Armenvierteln, denen es am Nötigsten fehlt. Oft gibt es kein sauberes Trinkwasser, nur selten Strom, fast nie eine Sanitärversorgung. Millionen Menschen in den Städten müssen ohne Toiletten leben.
Bis 2050 könnte sich die Zahl der Slumbewohner um weitere ein bis zwei Milliarden Menschen vergrößern, befürchtet der WBGU. „Daher müssen besonders die Lebensbedingungen der Ärmsten in den Mittelpunkt der Stadtentwicklung rücken“, fordert Dirk Messner. Er erhofft sich von der Habitat-III-Konferenz einen solchen „fundamentalen Perspektivwechsel der urbanen Agenda“. Der WBGU will dafür jedenfalls sein Gewicht in die Debatte einbringen, machte er klar. Das ist allerdings ein dickes Brett.
Die Vorstadtzüge stammen noch aus der Gründerzeit
Am Beispiel der kenianischen Hauptstadt Nairobi lässt sich das leicht zeigen. Als die Stadt im Hochland 1906 von den Briten gegründet wurde, war Nairobi eine Kleinstadt mit etwas mehr als 11.000 Einwohnern. 1948 nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die Stadt 119.000 Einwohner erreicht. Sie lag noch weit weg vom Nairobi-Nationalpark, in dem auf einer zunehmend kleiner werdenden Fläche noch Löwen, wenige Nashörner, Giraffen oder Zebras zu bewundern sind.
In den 1980er Jahren übersprang Nairobi die Eine-Million-Marke. Inzwischen leben nach jüngsten Schätzungen 4,5 Millionen Menschen in Nairobi, mindestens drei Millionen von ihnen in informellen Siedlungen oder in völlig überfüllten Slums. Die Infrastruktur, also beispielsweise die Vorstadtzüge, stammen noch aus der Gründerzeit.
Zwar soll nun in eine Modernisierung der Schienen investiert werden, aber der sind ganze Armenviertel im Weg. Da ist die Stadtverwaltung von Nairobi nicht zimperlich. Wenn eine Siedlung einer Straßenverbreiterung im Weg ist, können die Bewohner von Glück sagen, wenn sie kurz bevor die Bulldozer anrücken, davon erfahren, dass ihre Häuser platt gemacht werden. Auch das trägt dazu bei, dass die Stadt dem Nationalpark immer näher rückt. Vor ein paar Wochen ist dann eine Gruppe Löwen tagelang in der Stadt herumgeirrt. Sie haben ihren Ausflug in die Zivilisation überwiegend nicht überlebt.
Die Slumbewohner haben einen Stadtplan von Kibera erarbeitet
Selbst der größte Slum Ostafrikas, Kibera, war bei der Stadtverwaltung lange nicht auf dem Radar. Dass die Millionen Menschen in Kibera eine städtische Infrastruktur brauchen, hat im Rathaus niemanden interessiert.
Deshalb haben die Bewohner schließlich zur Selbsthilfe gegriffen. Sie haben einen Stadtplan von Kibera erarbeitet, in dem alles eingetragen wurde, was der Ort zu bieten hat: die Grundschule, mehr oder minder öffentliche Wasserhähne, die paar vorhandenen Toilettenhäuschen, eine öffentliche Küche, in der aus Abfällen Biogas zum Kochen und Strom produziert wird. Aber auch die Polizeistation am Rande des Slums, die etablierteren Teile des Viertels mit Lehm- oder Steinhäusern und die informellen neuen Teile von Kibera, die aus Abfällen und Wellblechdächern zusammengezimmert sind.
Jetzt, sagt einer der Aktivisten, könne die Stadt Kibera zumindest nicht mehr komplett ignorieren.
Der WBGU geht davon aus, dass die Veränderungen, die notwendig sind, um ein Leben innerhalb der planetaren Grenzen zu ermöglichen, vor allem in den Städten stattfinden müssen. Deshalb fordert er, die „Städte als zentrale Arenen der Transformation anzuerkennen und zu stärken“.
Denn die Städte sind mit ihrem hohen Ressourcenverbrauch nicht nur ein Problem. Sie sind auch die Labore der Veränderung. Viele Ideen, die in Großstädten erprobt worden sind, haben sich weltweit durchgesetzt. Zum Beispiel die Einführung von Busspuren, die in lateinamerikanischen Großstädten entwickelt worden sind, um dem ewigen Stau davon zu fahren. Die gibt es inzwischen überall, auch in Berlin oder in Lagos in Nigeria. In anderen Städten sind Experimentierräume entstanden, die von der Stadtbevölkerung rege genutzt werden.
Noch so eine lateinamerikanische Erfindung sind die Bürgerhaushalte in einigen Städten. Auch diese Innovation wird inzwischen in deutschen Großstädten wie beispielsweise Freiburg erprobt.
Die Regierungsberater plädieren zudem dafür, den Städten auch die Freiheit zu geben, eine klima- und menschenfreundliche Entwicklung zu erproben. Dafür solle die öffentliche Planungshoheit in den Städten „re-etabliert“ werden, heißt es im Gutachten. Denn nur dann könnten die Städte die Verantwortung für die eigenen Veränderungsprozesse übernehmen. Der WBGU fordert zudem, was auch die Weltbank nicht müde wird zu fordern: ein inklusives Wachstum.
Viel früher als die Wissenschaft, die sich jetzt mit Gutachten über die nachhaltige Stadtentwicklung übertrifft, hat das Städtebündnis ICLEI nachhaltige Veränderungen vorangetrieben. In diesem Bündnis tauschen seit 1990 inzwischen mehr als 1000 Städte aus aller Welt ihre Erfahrungen aus. Ganz praktisch.
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