Merkels Spitzenkandidatin: Der überraschende Aufstieg von Ursula von der Leyen
Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen ist als nächste EU-Chefin nominiert. Einiges spricht für sie – doch es gibt auch deutliche Kritik.
Die Kanzlerin erschien frohgelaunt. „So“, sagt Angela Merkel, als sie am Dienstag ins Brüsseler EU-Ratsgebäude kommt. „Wir werden heute mit neuer Kreativität an die Arbeit gehen!“
Das klang vormittags gegen elf Uhr stark wie Pfeifen im Walde, nachdem sich Europas Staats- und Regierungschefs am Vortag ein end- und ergebnisloses Gezerre um die EU- Spitzenposten geleistet hatten.
Ein paar Stunden später aber klang es plötzlich wie der Hinweis einer Eingeweihten. Die Kreativität ging von Emmanuel Macron aus. Der Franzose brachte einen neuen Namen für das wichtigste Amt ins Spiel, die Präsidentschaft der EU-Kommission: Wie wär’s mit Ursula von der Leyen?
Das kam nicht ganz so überraschend, wie es auf den ersten Blick erscheint. Macron hat die deutsche Verteidigungsministerin schon etwas länger auf seiner Rechnung. Denn als der Franzose den Spitzenkandidaten der konservativen Parteienfamilie EVP, den CSU-Mann Manfred Weber, vehement ablehnte, berichtete kurz darauf der bestens vernetzte Brüssel-Korrespondent der französischen Zeitung „Liberation“, Jean Quatremer, das sei keine anti-deutsche Aktion. Macron finde Weber einfach nur zu leichtgewichtig, um mit Leuten wie Donald Trump oder Wladimir Putin zu verhandeln.
Altmaier und von der Leyen waren im Rennen
Ein deutsches Schwergewicht, schrieb Quatremer, würde der Präsident unterstützen. Zwei Namen fielen: Peter Altmaier – der Wirtschaftsminister versteht sich bestens mit dem französischen Kollegen Bruno Le Maire – und eben Leyen.
Auf den Gedanken kommt man in Paris wahrscheinlich leichter als in Berlin. Hierzulande gilt die CDU-Politikerin vielen nur noch als Negativposten im Bundeskabinett. Mit großer Verve im Bendler-Block gestartet, hat sich die Verteidigungsministerin inzwischen in einem Gestrüpp von Pannen, Problemen und unerfüllten Erwartungen verhakt.
Ein Untersuchungsausschuss „Berateraffäre“, ein Segelschulschiff, das zum Millionengrab und zum Gespött der Nation wird, ständige Mängel in Material und Ausrüstung und obendrein ein gestörtes Verhältnis zur Truppe, die den Spruch vom „Haltungsproblem“ nie verziehen hat – die 60jährige schien keine Zukunft zu haben.
Aus französischer und aus EU-Sicht sieht das Bild allerdings völlig anders und sehr viel vorteilhafter aus. Nicht nur, dass die jüngste Tochter des 2014 verstorbenen niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht in Brüssel zur Welt kam und dort auch ein paar Jahre zur Schule ging. Nicht allein, dass sie neben Englisch deshalb zugleich Französisch fließend spricht.
Von der Leyen will Verteidigungsunion
Nein, Leyen hat sich auch mit der zähen Energie, die ihr selbst die schärfsten Kritiker nicht absprechen, hinter das Projekt einer eigenständigen europäischen Verteidigungsunion geklemmt. „Da ist sie wirklich gut“, lobte erst vor kurzem ein Offizier, der sie dabei aus der Nähe beobachten konnte und ansonsten keineswegs zum – ohnehin überschaubaren – Leyen-Fanclub zählt.
Nicht zuletzt trieb die Deutsche die Rüstungskooperation voran. Erst im Juni traf Leyen den französischen Präsidenten bei der Luftfahrtschau in Le Bourget, um ein gemeinsames Schlüsselprojekt zu präsentieren: die erste Studie für ein Kampfflugzeug der Zukunft. Das grau angestrichene Ding, das dort feierlich aufs Rollfeld geschoben wurde, war zwar nur eine Attrappe. Aber zusammen mit dem Nachfolger für den Kampfpanzer Leopard 2, der ebenfalls in deutsch-französischer Kooperation entstehen soll, steht es für den Willen, sich vom großen Bruder USA weiter unabhängig zu machen.
Kurz: Wer mit dem Blick von außen jemanden in der deutschen Politik sucht, der für ein internationales Spitzenamt geeignet scheint, der bleibt schnell bei Leyen hängen: Vielsprachig und im internationalen Geschäft erfahren, überzeugte Europäerin, hart im Nehmen. Dass Leyen bei Merkel nicht zuletzt deshalb einen Stein im Brett hat, weil sie als CDU-Vizevorsitzende keiner Talkshow- und Wahlkampfschlacht auswich, war sicher kein Schaden.
Von der Leyen ist Teil eines Personalpakets
Am Nachmittag schlägt Ratspräsident Donald Tusk die Deutsche dem Rat der 28 formell vor. Wenig später stimmt der Rat dem Gesamtpaket zu. Die Chefin des Weltwährungsfonds, die Französin Christine Lagarde, soll an die Spitze der Europäischen Zentralbank wechseln, der belgische Regierungschef Charles Michel von den Liberalen Nachfolger von Tusk als Ratspräsident werden und der spanische Außenminister Joseph Borrell, ein Sozialist, als Außenbeauftragter die EU vertreten.
Und das allseits hoch gehaltene „Spitzenkandidatenprinzip“?
Es fällt nach diesem Plan ziemlich weit hinten runter: Wahlsieger Weber soll Parlamentspräsident werden, allerdings nur für die Hälfte der fünfjährigen Amtszeit – für die andere wird der bulgarische Ex-Regierungschef Sergei Stanishev gehandelt. Als Trostpreis für die beiden anderen Spitzenkandidaten, den Sozialdemokraten Frans Timmermans und die Liberale Margrethe Vestager, bliebe ein Vize-Posten unter Kommissionschefin Leyen, den dritten soll der Slowake Maros Sevcovic bekommen.
Drinnen im Ratsgebäude erscheint das als charmante Lösung: Zwei - mit der Dänin Vestager drei – Frauen auf Spitzenposten, der neue starke Mann der Sozialisten, Spaniens Regierungschef Pedro Sanchez, kann einen eigenen Mann platzieren, die Liberalen kommen gut weg und die Osteuropäer sind bestens vertreten. Victor Orbans Sprecher twittert denn auch, Ungarn und die drei anderen Visegrad-Staaten trügen Leyen mit.
Kritik am Personalpaket folgt prompt
Dafür schäumen draußen viele um so mehr. Achim Post, SPD-Fraktionsvize in Berlin und Generalsekretär der Euro-Sozialisten, schimpft über „Postengeschacher“ und pocht aufs Spitzenkandidaten-Prinzip. Dass die Osteuropäer mitspielen, bringt den SPD-Mann vollends auf den Baum: Es dürfe doch nicht sein, dass am Ende Orban und seine Verbündeten „den kleinsten gemeinsamen Nenner in Europa diktieren“!
Auch bei der EVP gibt es verdutzte Gesichter. Offen zu Wort meldet sich aber niemand. Auch von CSU-Chef Markus Söder hört man zunächst nichts. Söder hatte noch am Morgen bekräftigt, dass Weber für den Chefposten tauge. Ob Leyen im Europaparlament die nötige Mehrheit als Kommissionchefin kriegt? Zumindest sind da noch Gespräche nötig.
Und Deutschland braucht nun natürlich jemand Neues im Bendler-Block. Der Posten steht der CDU zu. Verteidigungsexperten mit Ministerformat fallen einem in Berlin nicht gleich ein. Also jemand von außen, oder gleich eine umfassende Kabinettsumbildung? Man muss sicher nicht lange warten, bis aus der CDU wieder jemand „Friedrich Merz!“ ruft.
Nur eine winkt schon mal gleich ab: Annegret Kramp-Karrenbauer. Die CDU- Chefin ist ausgerechnet in diesen dramatischen Tagen auf Antrittsbesuch in Israel unterwegs. „Ich habe mich bewusst entschieden, aus einem Staatsamt in ein Parteiamt zu wechseln“, sagt Kramp-Karrenbauer der „Bild“-Zeitung. „Es gibt in der CDU viel zu tun.“