zum Hauptinhalt
Ein Lautsprecherwagen der Polizei am südlichen Mainufer
© dpa/Frank Rumpenhorst

Corona-Krise als Training: Der Staat wird zum Risikomanager

Wer hält was wie in Schach? Risikomanagement ist jetzt die zentrale Aufgabe. Der Hauptgewinner der neuen Lage ist der Staat. Ein Essay.

Ein Essay von Andreas Reckwitz

Andreas Reckwitz ist Soziologe, Kulturwissenschaftler und Autor. Ende 2019 erschien von ihm „Das Ende der Illusionen – Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne“ (Suhrkamp). 2017 sorgte er mit "Gesellschaft der Singularitäten" für Debatten. Seit April hat er eine Professur für Soziologe an der Humboldt-Universität Berlin.

In der digitalen Ära wird jede gesellschaftliche Krise in Echtzeit von einem enormen medialen Krisendiskurs begleitet: Jeder Aspekt der Krise wird ausgeleuchtet, und auf News-Feeds werden immer neue Fakten, Bilder und Zahlen präsentiert. Genau dies erleben wir gegenwärtig in intensiver und globaler Form in der Corona-Krise. Die Kommentatoren überschlagen sich mit ihren Urteilen: „Nichts wird mehr sein, wie es war.“ Aber haben wir das nach dem 11. September 2001 und anlässlich der Finanzkrise 2008 nicht auch gehört? Was bedeutet die Krise wirklich, ist sie tatsächlich so außergewöhnlich, und was könnten die Folgen sein, wenn die Krise vorüber ist?

[Verfolgen Sie in unseren Liveblogs die aktuellen Entwicklungen zum Coronavirus in Berlin und zum Coronavirus weltweit.]

In der Corona-Krise gilt in vielen Regionen der Erde eine Art Ausnahmezustand: Ausgangssperren und Geschäftsschließungen, um die Verbreitung des Virus zu verlangsamen. Aus größerer soziologischer Distanz erkennt man jedoch, dass der Ausnahmezustand Mittel zum Zweck ist in einem großangelegten Modus staatlicher Politik: dem Risikomanagement.

Ist es eine Gefahr - oder ein Risiko?

Ein solches staatliches Risikomanagement angesichts drohender Schäden und Katastrophen ist überhaupt nicht ungewöhnlich, es ist typisch für die moderne Gesellschaft. Gerade die Spätmoderne ist nicht nur eine globale „Risikogesellschaft“ (Ulrich Beck), sie ist auch eine Gesellschaft des weit verbreiteten und immer systematischeren Risikomanagements – ob es nun um gesundheitliche, technische oder ökologische Risiken geht. Insofern ist es irreführend, die Corona-Krise mit lange vergangenen Seuchen wie der mittelalterlichen Pest in eine Reihe zu stellen – und das nicht nur aufgrund der sehr verschiedenen gesundheitlichen Gefährdungen.

Epidemien hat es zweifellos immer gegeben. Aber entscheidend ist, ob man sie als „Gefahr“ von außen oder als beeinflussbares „Risiko“ betrachtet. Diese Unterscheidung verdanken wir Niklas Luhmann. Die Pest wurde von der mittelalterlichen Gesellschaft wie eine hereinbrechende Naturkatastrophe als Gefahr verstanden: Man hat sich im Wesentlichen darauf beschränkt, mit Krankheit und Tod umzugehen. Die moderne Gesellschaft betrachtet eine Pandemie jedoch als Risiko. Risiko heißt: Die Ausbreitung der Infektion erscheint nun als gesellschaftlich beeinflussbar; man ist ihr nicht ausgeliefert, sie soll vielmehr reguliert werden.

[Alle wichtigen Updates des Tages zum Coronavirus finden Sie im kostenlosen Tagesspiegel-Newsletter "Fragen des Tages". Dazu die wichtigsten Nachrichten, Leseempfehlungen und Debatten. Zur Anmeldung geht es hier.]

In dieser Perspektive hängt die Größe des Risikos vom Agieren der Gesellschaft ab. Ein solches Risikomanagement ist freilich eine hochkomplexe Angelegenheit. Mehrere Merkmale sind dafür charakteristisch, und sie alle können wir gegenwärtig beobachten.

1. Der Staat erhält im Risikomanagement eine zentrale Rolle. Während sich staatliche Funktionen ansonsten im gesellschaftlichen Geschehen häufig im Hintergrund halten können (was im neoliberalen Staat ohnehin der Fall ist), sind nun die Steuerungsfunktionen des Staates gefragt, die sich in alle Segmente des gesellschaftlichen Lebens einschalten können – alles zum Zweck der Minimierung von Risiken. Der Staat kann nun eine Steuerungsmacht ausüben, bis hin zur Zwangsquarantäne, die sonst häufig latent bleibt (und deshalb auf manche überraschend wirkt).

Wissenschaft ist selbst auch kontrovers

2. Modernes Risikomanagement ist in enormem Umfang auf wissenschaftliche, häufig naturwissenschaftliche Expertise angewiesen. Gegenwärtig betrifft dies vor allem die Virologie. Es ist die Wissenschaft, die Risiken kalkuliert, die Wahrscheinlichkeitsrechnungen größerer oder geringerer Risiken aufstellt und Strategien (flattening the curve) vorschlägt. Es besteht dabei immer die Gefahr, dass die staatliche Politik sich in Abhängigkeit von der Wissenschaft begibt: Das wäre eine Expertokratie der Alternativlosigkeiten. Tatsächlich stellen sich aber in demokratischen Gesellschaften die wissenschaftlichen Untersuchungen und Empfehlungen selbst häufig als kontrovers dar – so auch jetzt.

3. Das unerreichbare Ideal des staatlichen Risikomanagements ist Sicherheit in der Zukunft. Es bewegt sich somit immer in einem Kontinuum zwischen Unberechenbarkeit und Sicherheit. Berechenbarkeit ist ein Grundziel der Moderne: Möglichst soll Ungewissheit vermieden werden, Krankheiten sollen beseitigt, der Tod soll aufgeschoben. Wenn komplette Sicherheit nicht möglich ist, stellt sich die Frage, welche Ungewissheit die Gesellschaft bereit ist einzugehen, und was sie darüber für die Zukunft wissen kann. Genau darum dreht sich das Risiko: Wie viele Schwerkranke und Tote bei einer Infektion wären „normal“ und noch tolerierbar?

Der Staat setzt auf bürgerliche Selbstdisziplin

4. Staatliches und individuelles Risikomanagement gehen insbesondere unter spätmodernen Bedingungen Hand in Hand. Für die Gesellschaft seit den 1980er Jahren ist es charakteristisch, dass es die Individuen sind, die lernen, für ihre Gesundheit verantwortlich zu sein, und sich selbst vor Risiken zu schützen: von der Krebsvorsorge bis zur HIV-Prävention. Das staatliche Risikoregime in der Corona-Krise hat jedoch die Gesamtpopulation im Auge. Es kann nun allerdings auf die Selbststeuerungsfähigkeiten der Individuen zurückgreifen. Diese werden nicht einfach „weggesperrt“, sondern man setzt auf ihre staatlich angeleitete Selbstdisziplin: Social Distancing, Hygienemaßnahmen, Selbstquarantäne etc..

5. Ganz zentral ist: Ein Risikomanagement hat charakteristischerweise mit verschiedenen Risiken zu tun, die miteinander konkurrieren. Die systematische Minimierung des einen Risikos bringt häufig andere unerwünschte Folgen und Risiken mit sich. Gefragt ist dann eine Risiko- und Folgenabwägung. Diese Risikokonkurrenz ist im gegenwärtigen Fall überdeutlich: Die systematische Verfolgung des Ziels, die Ausbreitung des Virus zu minimieren, bringt mindestens drei unerwünschte Folgen und Risikozonen mit sich: Einschränkung von Persönlichkeitsrechten; erhebliche ökonomische Verwerfungen, psychische Probleme infolge der Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Die Politik ist sich dieser Risikokonkurrenz bewusst, und versucht nun die ökonomischen Risiken durch staatliche Auffangmaßnahmen zu minimieren, was weitere Folgerisiken mit sich bringt.

Überholt das Folgerisiko das Anfangsrisiko?

Das Besondere des staatlichen Risikomanagements angesichts der Corona-Krise ist also nicht, dass es stattfindet. Es fand etwa auch nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl 1986 oder im Zuge der Finanzkrise 2008/2009 statt und gegenwärtig – wenn auch bisher zögerlich – im Angesicht des Klimawandels. Das Besondere sind die weitreichenden Mittel, die nun zum Einsatz kommen und die spezifischen Umstände. Der Shutdown großer Teile des öffentlichen Lebens, auf den zumindest viele westeuropäische Gesellschaften setzen, ist ein extremes Mittel der Risikominimierung, das in diesem Umfang noch nicht zum Einsatz kam.

Von Staats wegen geschlossen.
Von Staats wegen geschlossen.
© dpa

Es ergeben sich dabei zwei Komplikationen: Diese weitreichenden Maßnahmen führen mehr und mehr dazu, dass das Anfangsrisiko (die ungeregelte Infektionskurve) im Grad seiner Schwere vom Folgerisiko „überholt“ wird: den erheblichen ökonomischen Schäden. Es findet hier also eine Risikoverschiebung statt, welche die Abwägung zwischen den verschiedenen Risiken umso dringlicher macht.

Diskrepanz zwischen individueller und kollektiver Gefährdung

Hinzu kommt, dass die Besonderheiten des Virus die Individuen und die Öffentlichkeit mit einer Ambivalenz der Risikostruktur konfrontierten, die gar nicht so leicht zu begreifen ist: Das Virus selbst ist für die übergroße Zahl der Infizierten ungefährlich (ganz anders als etwa das HIV-Virus), aber für einige wenige riskant, ja tödlich, vor allem für Personen mit schweren Vorerkrankungen.

Daher muss es nicht darum gehen, Infektionen vollständig zu verhindern, sondern „nur“ darum, die Ausbreitung zu verlangsamen, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Mit anderen Worten: Wenn man Social Distancing übt, dann weniger um sich selbst, sondern um die Population zu schützen. Es gibt also eine Diskrepanz zwischen individueller und kollektiver Gefährdung. Diese Diskrepanz lässt die Öffentlichkeit zwischen Beruhigung und Verunsicherung schwanken. Das gilt umso mehr, als seit den 2010er Jahren die Zuversicht auf gesellschaftlichen Fortschritt in der Öffentlichkeit geschwunden ist und ohnehin Abstiegs-, Verlust- und Katastrophenszenarien zirkulieren.

Wie werden die Gesellschaften nach dem Ende der Corona-Krise aussehen? Was wird sich wandeln? Eine seriöse Prognose ist schwierig. Hinsichtlich der Wirtschaft haben die Ökonomen Szenarien eines milderen oder eines tiefergehenden Einbruchs herausgearbeitet.

Gesellschaftliche Strukturen wandeln sich langsam

Alltagskulturell ist eine gewisse Stärkung solidarischer Beziehungen zumindest im Nahbereich denkbar. Generell muss man Ereignisse und Strukturen aber deutlich voneinander unterscheiden: Gesellschaftliche Strukturen haben ein Beharrungsvermögen und wandeln sich langsam. Nur selten können Ereignisse sie zerstören oder komplett neu bauen. Zu vermuten ist vielmehr, dass infolge der Corona-Krise bestimmte Transformationsprozesse, die bereits zuvor begonnen haben, verstärkt werden. Dies betrifft vor allem zwei Bereiche: die Revitalisierung der Regulierungsfunktionen des Staates und die tiefgreifende Wirkung der Digitalisierung.

Nachdem die Politik von 1945 bis in die 1970er Jahre auf einen aktiven (National-)Staat setzte, der starke Steuerungsfunktionen in Wirtschaft und Sozialleben übernahm, kam in den westlichen Gesellschaften seit den 1980er Jahren ein teilweise neoliberaler Dynamisierungsliberalismus ans Ruder, der auf Deregulierung und Entgrenzung setzte. Im Rahmen der Globalisierung und einer Vermarktlichung des Sozialen wurden staatliche Funktionen zurückgebaut: Markt ging vor Staat. Die Finanzkrise 2008 bedeutete in dieser Hinsicht einen Einschnitt: Schlagartig wurde deutlich, dass staatliche Grundregeln nötig sind, um die Märkte zu bändigen.

Seitdem haben die Diskussionen von der Linken bis zu den Konservativen zugenommen, dass der Staat die öffentliche Infrastruktur – Bildung, Wohnen, Gesundheit, Verkehr – vernachlässigt hat und diese zu revitalisieren ist: von der Frage nach der Krankenversicherung in den USA bis zum Mietendeckel in Berlin.

"Einbettender Liberalismus"

Dieser Transformation vom Dynamisierungsliberalismus zu einem „einbettenden Liberalismus“ wird die Corona-Krise einen Schub geben: Die Notwendigkeit einer staatlichen Vorsorge für Krisenfälle und eines robusten öffentlichen Gesundheitsnetzes, das gegenwärtig teilweise schmerzhaft fehlen, sind dann weitere Mosaiksteine in einer Renaissance des spätmodernen Staates und seiner öffentlichen Funktionen des „Allgemeinen“. Auch die Globalisierungsprozesse – etwa wenn es um globale Mobilität geht – werden wohl staatlich künftiger stärker reguliert werden. Und natürlich: Innerhalb der Renaissance des Staates wird die Alternative zur liberalen eine populistische oder autoritäre Staatlichkeit sein, wie sie in Ungarn oder China deutlich wird.

Neben dem Staat ist die zweite große Gewinnerin der Krise voraussichtlich die Digitalisierung. In dieser Krise erweist sich die digitale Revolution als ein Glücksfall: In einer Phase, in der Kommunikation von Angesicht zu Angesicht riskant erscheint, können die digitalen Medien, die eine Kommunikation unter räumlich Abwesenden ermöglichen, zwar nicht alles, aber doch manches ersetzen. Darauf greift die Gesellschaft gegenwärtig nun noch intensiver zurück: Homeoffice und Videokonferenzen im Bereich der Arbeit, digitales Lernen in Schule und Hochschule, Onlinekonsum und persönliche Kommunikation über das Netz – man kann davon ausgehen, dass diese Erfahrungen auch nach Ende der Krise dazu führen, dass sich Arbeit, Bildung und Privatsphäre weiter tiefgreifend digitalisieren.

Und der Klimawandel?

Allerdings: In Ostasien hat man, um die Infektion zu bannen, auch das digitale Tracking von Risikopersonen intensiviert. Dass der Staat ungenierter versucht, auf persönliche Daten „im gesellschaftlichen Interesse“ zurückzugreifen, ist ebenfalls eine mögliche Folge der Krise.

Und der Klimawandel? Diese zentrale Frage des 21. Jahrhundert verschwindet durch die Corona-Krise nicht. In mancher Hinsicht scheint es, dass die Corona-Krise eine Art gesellschaftliches Trainingsfeld unter Extrembedingungen, ein Testfall dafür ist, was uns in den nächsten Jahrzehnten im Zusammenhang mit dem Klimawandel generell beschäftigen wird: ein staatliches Risikomanagement, das mit Risikokonkurrenzen, Ungewissheit, kontroverser naturwissenschaftlicher Expertise und einer Verschaltung von kollektiver und individueller Prävention jonglieren muss. Aber erst einmal müssen wir den aktuellen Test bestehen.

Zur Startseite