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In der Gedenkstätte des ehemaligen Jugendwerkhofs in Torgau wird an die Heimkinder erinnert. Viele berichten über Gewalt.
© Christiane Kohlmann/dpa

Sexueller Missbrauch in der DDR: Der Schrecken von Torgau

Eine Studie offenbart das Ausmaß von sexueller Gewalt und Missbrauch in Heimen und Familien der DDR.

Corinna Thalheim war 16, als die DDR begann, ihr Leben zu zerstören. Die Schülerin besuchte den Unterricht eher unregelmäßig, deshalb landete sie wegen „Schulbummelei“ 1984 im Heim in Lutherstadt. Dort war der Alltag so brutal, dass die Jugendliche dreimal floh. Für Fälle wie sie hielt die DDR ihre schlimmste Einrichtung bereit: den Werkhof Torgau, wo die 16-Jährige nach ihren Fluchtversuchen landete. „Dort wurden Menschen gebrochen“, sagt sie heute, „dort herrschte organisierte Gewalt.“ Und sexueller Missbrauch.

Fälle wie jener von Corinna Thalheim hat die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs untersucht und eine Fallstudie veröffentlicht. Schwerpunkt: sexueller Missbrauch in Institutionen und in Familien in der DDR. Am Dienstag wurde diese Studie vorgestellt, mit Corinna Thalheim als Zeitzeugin. Basis waren 75 Anhörungen von Opfern, dazu wurden 27 Berichte ausgewertet. Die übergeordnete Frage lautete: Was war DDR-spezifisch an diesen Taten, am Missbrauch im 40 Jahre abgeriegelten Teil Deutschlands?

Die Psychologin Beate Mitzscherlich, in der DDR ausgebildet, untersuchte Kinderheime und Werkhöfe, für sie ist Torgau „nur die Spitze des Eisbergs“. Sexueller Missbrauch sei ein „normaler Teil der Heimerziehung“ gewesen. Und normal sei es auch gewesen, dass man Kindern, die über Missbrauch erzählt hatten – wenn sie sich denn überhaupt trauten – nicht geglaubt wurde, nach der Devise: „Heimkinder lügen sowieso“.

Die Eskalation der Heimerziehung, das war für die Wissenschaftlerin Mitzscherlich DDR-spezifisch. Statt Fürsorge und Empathie lernten Kinder, die Probleme hatten oder sich nicht normgerecht verhielten, eine Spirale der Sanktionen kennen. Am Ende dieser Spirale stand der Schrecken von Torgau.

Dazu, sagt die Psychologin, sei das Thema extrem tabuisiert worden. Signale von Kindern, nonverbale Hilfeschreie, hätten Erzieher – die nicht selber Täter waren – nicht erkannt. Allerdings war das im Westen zumindest bis Ende der 60er-Jahre nicht anders. Tabuisiert wurde Missbrauch dort ebenfalls, teilweise sogar noch viel länger.

Viele Opfer können erst nach Jahrzehnten über ihre Erfahrungen reden

Die Sozialpädagogin Cornelia Wustmann, auch sie in der DDR aufgewachsen, analysierte Missbrauchsfälle in Familien in der DDR. Aus ihrer Sicht stellte das DDR-Dogma, dass eine sozialistische Gesellschaft konfliktfrei sei, ein besonderes Problem dar. „Wenn es keine Delikte gibt, dann gibt es auch keine sexuelle Gewalt“, sagt Wustmann. Auch deshalb sei Missbrauch ein Tabuthema gewesen, es wurde öffentlich nicht angeprangert. Missbrauch sei nicht mal in den offiziellen Kriminalstatistiken aufgetaucht. Therapien für Opfer habe es demzufolge auch nicht gegeben.

Ein weiteres Problem sei das propagierte Ideal der „heilen sozialistischen Familie“ gewesen. Wer dagegen verstoßen habe, der habe mit Sanktionen rechnen müssen. Und im Extremfall hätten diese Strafen die Kinder betroffen. Diese landeten im schlimmsten Fall im Jugendheim.

Doch die Opfer leiden immer, egal ob sie in der Familie oder im Jugendheim missbraucht wurden. Viele können erst nach Jahrzehnten über ihre Erfahrungen reden. Wie dramatisch diese Leiden sind, auch das macht die Studie klar. Der Therapiebedarf ist enorm.

Und gerade Opfer von DDR-Heimen wurden lange Zeit öffentlich gar nicht beachtet. Das hat unter anderem auch finanzielle Folgen. Vom Opferentschädigungsgesetz wird ihre Gruppe nicht erfasst, und der Spezial-Fonds für Heimkinder ist längst geschlossen. „Wir fallen durch alle Raster“, sagt Corinna Thalheim. Sie arbeitet inzwischen am Ort ihres Schreckens: In der Gedenkstätte Torgau betreut sie unter anderem weitere Opfer des schaurigen Werkhofs. „Das ist meine Berufung“, sagt sie.

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