"Freistatt": Missbrauch und Heimerziehung im Film: Die gestohlene Jugend
Es ist nicht leicht, den tabuisierten Themen Missbrauch und Heimerziehung beizukommen. Immer mehr Filme erzählen vom Schweigen der Nachkriegszeit. Auch Marc Brummund in "Freistatt".
Sie stechen Torf im Moor, bei Wind und Wetter, es ist Knochenarbeit. Macht einer schlapp, werden alle mit Essensentzug bestraft. Wer aufmuckt, kommt in den Bunker, wer weiter aufmuckt, wird schwer misshandelt. Prügel sind an der Tagesordnung, fliehen ist zwecklos: Die Sümpfe erstrecken sich bis zum Horizont. Manch ein Jugendlicher verschwindet über Jahre im Heim. Den Eltern müssen die Zöglinge schreiben, dass es ihnen gut geht.
Freistatt in Niedersachsen war eines der schlimmsten westdeutschen Erziehungsheime in den 60er und 70er Jahren. Eine Außenstelle der Bodelschwinghschen Anstalten Bethel, ein Ausbeutungsbetrieb in der Zuständigkeit der Diakonie. Regisseur Marc Brummund, in der Nähe in Diepholz aufgewachsen, war schockiert, als er später erfuhr, was dort geschah. Nicht, dass keiner es gewusst hätte; der Wirtschaftsbetrieb hatte Abnehmer und Geschäftspartner. Aber keiner wollte es wissen. Brummunds Kinofilm „Freistatt“ versucht, Bilder zu finden für das, wovon sich die deutsche Öffentlichkeit jahrzehntelang kein Bild machen wollte.
Hier der gleißende Sommer, dort das schwarze Moor, das alles Licht schluckt. Hier die Rock’n’Roll-Zeit mit Minirock, BMX-Rad und der Hippieromantik von „Scarborough Fair“, dort der Sadismus oder auch die perfide, den Missbrauch kaschierende Freundlichkeit der Anstaltsaufseher (Alexander Held, Stephan Grossmann, Max Riemelt). Demütigungen, Schikanen, Verrohung: Wolfgang (Louis Hofmann) will sich nicht unterkriegen lassen und blickt seinen Peinigern frech ins Gesicht. Er flüchtet, wird eingefangen, flieht wieder, zettelt Revolten an, wird noch brutaler bestraft – sie wollen ihn brechen, um jeden Preis.
Brummund psychologisiert und differenziert nicht
Deutsche Täter, deutsche Opfer, eine ängstliche Mutter, ein tyrannischer Stiefvater: Brummund psychologisiert und differenziert nicht, führt nicht aus, wie die Gewalt im Schatten der unbewältigten NS-Verbrechen gedeiht. Er setzt auf den Hell-Dunkel-Kontrast, auf die Wucht des Geschehens: Wolfgangs Leidensweg basiert auf wahren Ereignissen. Gedreht wurde an Originalschauplätzen – Freistatt gehört zu jenen Einrichtungen, die ihre Vergangenheit aufgearbeitet haben.
Seit dem Runden Tisch Heimerziehung und dem Bekanntwerden der Missbrauchskandale in kirchlichen und staatlichen Einrichtungen vor fünf Jahren, seit der Einrichtung von Entschädigungsfonds sowie der Debatte über Täterbestrafung und Verjährungsfristen häufen sich auch die Filme darüber. Die ZDF-Produktion „Und alle haben geschwiegen“ (2012) basiert auf Peter Wensierskis Buch „Schläge im Namen des Herrn“. Christoph Röhls WDR-Film „Die Auserwählten“ (2014) nimmt die Missbrauchsverbrechen an der Odenwaldschule in den Blick, mitten in der sonnendurchfluteten Internatsidylle.
Christoph Röhl setzt ebenso auf die Ästhetik des Gegensatzes wie Christian Frosch in seiner Kleinstadt-Erzählung „Von jetzt an kein Zurück“. Darin folgt auf die Comingof-Age-Romanze im Sixties-Stil der Heimerziehungs-Horror. Das Mädchen Ruby wird ins Heim der Barmherzigen Schwestern gesteckt, ihr Freund Martin landet in Freistatt – und geht später zur RAF.
Die skandalisierten Themen Missbrauch und Heimerziehung
Die Filme zeigen, es ist nicht leicht, den tabuisierten und oft ja auch skandalisierten Themen Missbrauch und Heimerziehung mit den Mitteln der Filmnarration beizukommen. Bis zu 800 000 Heimkinder zwischen 1949 und 1975 alleine in der Bundesrepublik. Misshandlung und Missbrauch ausgerechnet von Schutzbefohlenen, die schon Schlimmes hinter sich hatten, bevor sie ins Heim kamen. Tausendfach zerstörte Biografien. Für diejenigen, die in Behindertenheimen oder Kinder- und Jugendpsychiatrien gelandet waren, gibt es bis heute keine Entschädigung. Wie soll man davon erzählen?
Die nach dem Krieg in den 50er und 60er Jahren Aufgewachsenen wurden noch mit Sätzen wie „Wenn du nicht brav bist, kommst du ins Heim“ und mit Vokabeln wie „schwer erziehbarer Junge“ oder „gefallenes Mädchen“ groß. Diese Generation ist heute an der Macht, in der Politik, der Wirtschaft, den Institutionen – und sie erschrickt über sich selbst. Über die Traumata und Tabus der eigenen Kindheit. Und darüber, dass bisher kaum versucht wurde, sie in den Blick zu nehmen.
Da war das Schweigen über Auschwitz: Nach „Im Labyrinth des Schweigens“ entstehen weitere Filme über Fritz Bauer und die Auschwitz-Prozesse. Auf seltsame Weise ging dieses Schweigen mit dem Schweigen über die Missstände im Herzen der Nachkriegsgesellschaft einher. Schwarze Pädagogik, Gewalt in den Familien – was vom Krieg geblieben war. Ein teils bis heute vermintes Gelände.
Immer wieder mischen sich Sex und Gewalt
Gerd Schneiders Debütfilm „Verfehlung“ (ebenfalls im März gestartet) spielt in der Gegenwart. Ein Gefängnisseelsorger (Sebastian Blomberg) muss erleben, wie sein bester Freund, ebenfalls katholischer Priester, des sexuellen Missbrauchs angeklagt wird. Der Täter leugnet, die Kirche vertuscht nach Kräften mit. Eine verschworene, verlogene Gemeinschaft: Der Regisseur kennt den Korpsgeist der Katholiken, er war selber Priesteramtskandidat.
Der Zölibat in „Verfehlung“, die Päderasten-Pädagogen in „Die Auserwählten“, die Eifersucht des Stiefvaters in „Freistatt“: Immer wieder mischen sich Sex und Gewalt. In den Filmen scheint auf, wie sehr auch die Unterdrückung der Sexualität Monster gebiert, wie wenig die Bigotterie der zugleich prüden und libertären 60er Jahre bislang ins Bewusstsein gerückt ist. Und immer wieder das Täter-Opfer-Muster, ob in Jugendfreizeiten, Internaten oder zwischen Eltern und Kindern.
Wie die Opfer wieder zu Tätern werden, das erkundet Rosa von Praunheims Dokufiction „Härte“ über den Karatechampion und ehemaligen Berliner Zuhälter Andreas Marquardt. Eine Biografie im Teufelskreis der Gewalt: Vom Vater geschlagen, von der Mutter missbraucht, wird er selber zum üblen Schläger, der erst im Gefängnis den Ausstieg schafft und sich heute um andere misshandelte Kinder kümmert. Praunheims Film gelingt es, seinen Protagonisten nicht auf das Produkt seiner Herkunft zu reduzieren. Marquardt schafft es, aus dem Teufelskreis auszusteigen, ohne seine Wunden und seine Verbrechen zu leugnen. Der freie Wille, auch eine Art Kampfsport.
Ulrike Meinhof engagierte sich und schrieb das Drehbuch zu "Bambule"
Übrigens ist es nicht so, dass damals niemand gegen Missbrauch und Heimerziehung protestiert hätte. Ende der 60er Jahre engagierten sich Apo-Aktivisten, berichteten kritisch und arbeiteten mit Heimkindern, holten sie sogar aus den Anstalten heraus. Die bekannteste: Ulrike Meinhof. Sie schrieb das Drehbuch zum TV-Film „Bambule“, der wie „Freistatt“ auf wahren Begebenheiten basierte, auf dem Schicksal dreier Mädchen im Berliner Erziehungsheim Eichenhof. „Bambule“ sollte am 24. Mai 1970 ausgestrahlt werden, wurde jedoch abgesetzt, weil Meinhof sich zehn Tage zuvor endgültig der RAF angeschlossen hatte. Der klassenkämpferische Duktus und ihr Abtauchen als Terroristin kriminalisierten ihr Anliegen gleich mit.
Es war die Verdoppelung des Tabus: Von Heimerziehung wollte jetzt erst recht keiner mehr etwas hören.
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