SPD-Parteitag: Der schale Sieg des Martin Schulz
Am Ende seiner Rede beim Sonderparteitag in Bonn klatschen sie nicht einmal eine Minute. Und keiner steht auf. Kaum vorstellbar, dass derselbe Mann vor knapp einem Jahr die SPD in rauschhafte Zustände versetzt hat.
Er muss das jetzt durchstehen, so gut es eben geht. Es ist kurz vor zwölf, als Martin Schulz im Bonner „World Conference Centrum“ den Kampf aufnimmt, gegen das Misstrauen, gegen die Zweifel und die Angst. Schulz steht an einem knallroten Pult auf dem Podium vor dem knallvollen Saal. Der SPD-Chef ist blass, eine schwere Erkältung hat ihn die halbe Nacht wachgehalten. Aber das ist vielleicht nicht sein größtes Problem.
Wenn Schulz über den Rand seines Redemanuskripts schaut, sieht er die Delegierten vor sich, mehr als 600 Genossen aus der ganzen Republik. Er weiß: Von denen da unten im Saal wollen ihm viele nicht mehr folgen. Schon gar nicht in die verhasste große Koalition.
Es steht viel auf dem Spiel für die SPD an diesem Sonntag in der alten Bundeshauptstadt. Wenige Kilometer vom Congress Centrum im früheren Regierungsviertel entfernt haben die Sozialdemokraten schon einmal einen Parteitag veranstaltet, der eine historische Entscheidung traf. In Bad Godesberg verabschiedete sich die SPD im November 1959 von ihren marxistischen Dogmen und öffnete sich als Volkspartei allen Schichten. Erst das Godesberger Programm ermöglichte es ihr, das Kanzleramt zu beanspruchen und später zu erobern.
Der Anfang vom Ende der SPD als Volkspartei
Es macht die Aufgabe von Martin Schulz auf dem Podium nicht leichter, dass es an diesem Sonntag wieder ganz grundsätzlich um die Regierungsfähigkeit der SPD geht. Der Vorsitzende und mit ihm fast die ganze Parteiführung fürchtet, dass eine Absage an die große Koalition die SPD für lange Zeit ins Abseits stellen würde. Am Abend vor dem Delegiertentreffen beschreibt ein führender Genosse die Tragweite: Wenn die SPD mit einem Nein auf offener Bühne ihre Fähigkeit zum Kompromiss zugunsten der „reinen Lehre“ opfere, dann wäre das „ein umgekehrtes Godesberg“. Der Anfang vom Ende der SPD als Volkspartei.
Martin Schulz will das verhindern – trotz Schnupfen und durchfieberter Nacht. In den nächsten 58 Minuten muss er nicht nur die Skepsis gegen das Bündnis mit der Union mindern, sondern auch die gegen ihn selbst. Denn derselbe Martin Schulz, der gleich von der Verbesserung der Lebensverhältnisse durch eine Groko schwärmen wird, hat vor wenigen Wochen noch ganz anders gesprochen. Opposition und nichts anderes – das sei der Auftrag der SPD nach der Bundestagswahl, verkündete er damals. Daran hielt er sogar noch nach dem Ende der Jamaika-Sondierungen fest. Bis Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sich einschaltete.
„Nicht meine Haltung, nicht mein Weg“
Im Zickzack zur Groko – die Vorgeschichte hängt Schulz im Kreuz, auch wenn er sich nun um mehr Klarheit bemüht. Schon nach wenigen Minuten spricht er die vielen Groko-Gegner in der Partei direkt an, die unter keinen Umständen in eine Regierung eintreten wollen, ganz egal, was die SPD-Unterhändler der Union noch abringen mögen. „Das ist nicht meine Haltung und auch nicht mein Weg“, ruft Martin Schulz. „Das kann nicht die Haltung eines Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands sein.“
Nun ist es mit der Haltung so eine Sache. Schulz hat der SPD schon viel versprochen – auch wenn es um ihn selbst geht. „In eine Regierung von Angela Merkel werde ich nie eintreten“, sagte er am Tag nach der Bundestagswahl. Die Genossen haben genau registriert, dass der Vorsitzende die Festlegung seit dem Scheitern von Jamaika nicht mehr wiederholen will. Tut er es heute?
Darauf hoffen viele im Saal, denn ein Verzicht des Partei-Chefs auf einen Kabinettsposten unter Angela Merkel wäre ein Signal an die Groko-Gegner, dass es Schulz nicht zuallererst um sich selbst, sondern um die SPD geht. Ohne Einbindung in die Kabinettsdisziplin könne er das Profil der eigenen Partei gegenüber den Konservativen schärfen und sich zudem auf die von jedem Redner beschworene Erneuerung der SPD konzentrieren.
Delegierte stöhnen spöttisch auf
Aber Schulz sträubt sich. Wichtige Genossen aus Nordrhein-Westfalen, aus Hessen und Niedersachsen haben ihm den Verzicht auf ein Regierungsamt kurz vor dem Parteitag nahegelegt. Seine Antwort: nein. In seiner Rede spart er die Frage aus, welche Funktion er selbst übernehmen könnte, falls es klappt mit der großen Koalition. Stattdessen gibt er ein Versprechen, wieder einmal. In der Vergangenheit sei Regierungshandeln oft wichtiger genommen worden als die Ansprüche der Partei: „Das wird nicht mehr passieren.“
Der Saal hat nicht auf diese Botschaft gewartet, zumindest reagieren die Delegierten verhalten. Überhaupt gehen die Genossen sehr sparsam um mit dem Applaus für ihren Vorsitzenden. Besonders auffällig wird das, als Schulz über sein Herzensthema redet: Europa. Der Europa-Reformer und französische Präsident Emmanuel Macron habe ihn am Vortag angerufen und zur Regierungsbildung ermutigt, erzählt der Vorsitzende. Doch die demonstrative Nähe zum französischen Politstar verfängt nicht: Manche Delegierte stöhnen spöttisch auf, als ob sie sagen wollten: Netter Trick – aber eben auch nicht mehr!
Schulz ackert sich weiter durch sein 60-Seiten-Manuskript. Am Ende seiner Rede – „Ich danke euch für eure Aufmerksamkeit“ – klatschen sie nicht einmal eine Minute. Und kein Einziger steht auf. Man kann das irgendwie verstehen. Sie haben einen Parteivorsitzenden erlebt, der Seite um Seite abgearbeitet hat, kaum einmal laut oder wenigstens eindringlich geworden ist. Kein Aufbruch, nirgends, sondern eine Rede, die in weiten Teilen nur eine Rechtfertigung für seine Kehrtwenden als Parteichef war. Kaum vorstellbar, dass derselbe Mann vor knapp einem Jahr die SPD mit seinen Auftritten in rauschhafte Zustände versetzt hat. Wollen sie ihn nicht mehr, kann er nicht mehr?
Jubelrufen und frenetischer Applaus
Kevin Kühnert kann. Der 28-jährige Juso-Vorsitzende ist in kürzester Zeit zum Gegenspieler von Schulz und der Parteiführung aufgestiegen. Auch die Anhänger der großen Koalition in der SPD bescheinigen ihm, dass er seine Argumente ohne Schärfe vorbringt und rhetorisch einiges drauf hat. Auch diesmal wirkt er locker, lobt erst mal die Gemeinsamkeiten, bevor er sich dann festlegt.
Die Parteiführung schont er nicht. „Die wahnwitzigen Wendungen und Kehrtwendungen unserer Partei haben noch mal mehr Vertrauen gekostet“, klagt er – und wird immer wieder mit Jubelrufen und frenetischem Applaus belohnt. Bevor er mit seiner Warnung vor der Groko zum Schluss kommt, spielt der junge Mann mit dem dunklen Hemd auf ein Zitat von Alexander Dobrindt an. Der CSU-Landesgruppenchef ist für viele Sozialdemokraten zur Hassfigur geworden, seit er die Kritik aus der SPD an den Sondierungsergebnissen als „Zwergenaufstand“ verhöhnte. Kühnert ruft: „Heute einmal ein Zwerg sein, um in Zukunft wieder Riesen sein zu können.“ Da springen viele im Saal auf vor Begeisterung.
Andrea Nahles kann es auch. Sie hat zusammen mit Schulz die SPD in die Sondierungen geführt, beide haben – in kleiner Runde mit den Unionsspitzen – hart verhandelt. Wie hart, das kann man sich vorstellen, wenn man sie jetzt am Rednerpult toben hört. Die frühere Juso-Chefin knöpft sich ihren Nachfolger Kühnert vor, der auch bei Neuwahlen keine großen Risiken sieht. Keine Risiken bei Neuwahlen?
„Das ist doch Blödsinn, verdammt noch mal!“
Die Fraktionschefin redet sich in Rage, haut mit beiden Händen aufs Pult. „Die Bürger zeigen uns den Vogel“, donnert sie in den Saal. Niemand werde verstehen, wenn sich die SPD jetzt verweigere, weil sie sich nicht zu hundert Prozent durchgesetzt habe. „Das ist doch Blödsinn, verdammt noch mal!“
Jetzt jubelt der Saal mindestens so laut und so lange wie vorhin beim Auftritt des Juso-Chefs. Nahles kämpft mit vollem Einsatz und heißem Herzen – das unterscheidet sie von Schulz. Sie weicht den heiklen Fragen nicht aus. Kann die SPD in den anstehenden Koalitionsverhandlungen Nachbesserungen beim Familiennachzug, beim Bemühen um ein Ende der Zwei-Klassen-Medizin und der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverträgen erreichen? Das ist die Brücke, über die die Groko-Gegner gehen sollen. Aber Nahles macht ihnen nichts vor. „Das Einzige, was ich euch versprechen kann: Wir werden verhandeln, bis es quietscht auf der anderen Seite.“ Manche in den Gängen sagen, es sei die Rede einer Parteichefin, führungsstark und emotional, denn die Delegierten wollten begeistert werden.
Schulz versucht es zum Schluss auch noch mal. Mehr als drei Stunden haben die Sozialdemokraten im Kongresszentrum gestritten, dann hat der Parteichef das letzte Wort vor der Abstimmung. Er nutzt den Auftritt für einen letzten Appell, der fast flehentlich klingt. „Ich bitte euch von ganzem Herzen, jetzt in eine Regierung zu gehen und dort zu beweisen, dass wir Gutes für die Menschen in Deutschland und in Europa erreichen können!“
Stille in der Halle, minutenlang
Als Justizminister Heiko Maas als Tagungspräsident den Parteitag nach 16 Uhr abstimmen lassen will, wird es noch einmal spannend. Denn als die Delegierten die roten Karten in die Höhe recken, kann Maas zunächst keine eindeutige Mehrheit erkennen. Es sieht nach einem Sieg für die Groko-Befürworter aus, aber er will sichergehen. Im zweiten Durchgang wird abgezählt. Stille in der Halle, während die Delegierten ihre Karten minutenlang nach oben halten.
Um 16 Uhr 29 verliest Maas das Ergebnis: 642 gültige Stimmen, davon 362 Ja, 279 Nein, eine Enthaltung. Die SPD hat sich nicht aus der Verantwortung verabschiedet, sondern den Weg zu Koalitionsverhandlungen frei gemacht. Das knappe Ergebnis aber macht deutlich, dass die Partei noch lange nicht in der Regierung angekommen ist.
Und Martin Schulz? Der Vorsitzende wirkt nicht befreit, als er mit seinem Tross durch die Halle eilt. Die Abstimmung hat er gerade noch gewonnen. Gestärkt ist er nicht.