Merkel gegen Schulz: Der Nachbar von cool heißt arrogant
Bei Martin Schulz schält sich eine Eigenschaft heraus, die Respekt einflößt: sein Mut. Angela Merkels Haltung könnte sich hingegen rächen. Ein Kommentar.
Mit mir bleibt alles gut, haltet fest am Bewährten: Das ist Angela Merkels zentrale Botschaft für den Bundestagswahlkampf. Nicht das bessere Argument soll siegen, kein kluger Plan oder schlüssiges Konzept, sondern das Gefühl ganz allein. Weil sie seit zwölf Jahren regiert, verlässt sie sich darauf, so bekannt und den Menschen vertraut zu sein, dass ein Leben ohne sie ärmer zu sein scheint. Es soll eine Charakterwahl sein, keine über Programme.
Denn Merkel weiß, dass sie von vielen Deutschen so beschrieben wird: Sie hat das Herz am rechten Fleck, ist fleißig, selbstlos, nie aufbrausend oder übelnehmend. Wenn sie mal spontan – man könnte auch sagen: panisch, oder: unbedacht – reagiert, wie bei der Energiewende oder in der Flüchtlingsfrage, dann waren zumindest ihre Motive lauter. Und wer mit guten Absichten fehlt, dem wird rasch verziehen. Über die Folgen von Energiewende und Flüchtlingspolitik wird ja kaum noch gesprochen.
Zu grundanständig soll sich obercool gesellen. Ist doch beeindruckend, wie die Kanzlerin mit ihren Widersachern umgeht, alle Alphatiere und deren Möchtegernvarianten weglächelt oder aussitzt, national und international. Ein Horst Seehofer prallt an ihrer sturen Sachbezogenheit ebenso ab wie Donald Trump, Wladimir Putin, Recep Tayyip Erdogan. Durch ihre Gelassenheit demaskiert Merkel jede Hitzköpfigkeit. Wer poltert, hat schon verloren. Keine Krise, in der sie nicht wirkt – und wirken will –, als hätte sie am Morgen mit Buddha gefrühstückt. Ein Fels in der Brandung: Der Kontrast zu den purzelbaumschlagenden Weltläuften verstärkt diesen Eindruck.
Selbst unausgereift Konkretes ist zumindest – konkret
Welche Chancen soll dagegen Martin Schulz haben? Laut Umfragen derzeit wenige. Erfahren und kompetent ist der Herausforderer auch, aber weder gelingt es ihm, eine Merkelmüdigkeit zu erzeugen, noch den Verdacht abzuschütteln, Bundeskanzler einer rot-dunkelrot-grünen Koalition werden zu wollen. Die nämlich wäre sehr unbeliebt. Allerdings schält sich eine Eigenschaft bei Schulz heraus, die Respekt einflößt: sein Mut. Der Herausforderer geht ins Offene, er sagt, was er will, wofür er steht, welches seine Prioritäten sind. Über Einzelpunkte lässt sich trefflich mäkeln, aber selbst unausgereift Konkretes ist zumindest – konkret.
Es war übertrieben von Schulz, Merkels inhaltliche Positionsverweigerung einen „Anschlag auf die Demokratie“ zu nennen. Aber es ist richtig, dass Menschen, zumal in Wahlkampfzeiten, einen Anspruch darauf haben, über den Kurs der Kandidaten informiert zu werden. Schulz fordert Investitionen in Bildung und Digitales, er will europäische Kompetenzen erweitern, nicht verringern.
Was will Merkel? Wartet sie bis nach der Wahl darauf, mit deutschen Steuergeldern die französische Wirtschaft anzukurbeln? Will sie erst nach der Wahl gute transatlantische Beziehungen zu Donald Trump aufbauen? Hat sie Angst davor, durch Festlegungen Angriffsflächen zu bieten? Der Nachbar von cool heißt arrogant. Ich habe Klarheit nicht nötig, weil der Wähler mich kennt: Es kann sein, dass sich diese Haltung eines Tages rächt.
Keine Angst vor Wiederholungen
Merkel tendiert zur Flucht in die Komplexität. Sie verweist auf Abstimmungs- und Planungsnotwendigkeiten, zu beschleunigende Prozesse, Umsteuerungsmanöver. Es soll klingen, als seien sämtliche Widerstände stets Teile der Lösung eines Problems. Schulz muss das Gegenteil tun. Er muss vereinfachen, die Dinge auf den Punkt bringen, Defizite benennen. Und er darf keine Angst vor Wiederholungen haben. Ich will Kanzler werden, weil… – dann muss eine griffige Parole folgen, die sich einprägt.
Viel zu verlieren hat Schulz nicht. Er übernahm die SPD, als sie in Umfragen bei 21 Prozent lag, vier Prozent mehr oder weniger sind da egal. Bloß keinen Fehler machen: Auch diese Rolle ist von Merkel besetzt. Wenn der Herausforderer es schafft, die Agenda zu bestimmen, hat er noch eine Chance. Nur wer wirklich Kanzler werden will, kann es auch werden – siehe Gerhard Schröder.
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