Mehrheit für Rot-Grün: Der Kraft-Effekt
Der Wahlsieg von Hannelore Kraft in Nordrhein-Westfalen lässt die Machtoption Rot-Grün auch für die Bundestagswahl 2013 wieder wahrscheinlicher erscheinen. Intern fordert sie die SPD-Troika heraus.
Die Siegerin schüttelt den Kopf, als könne sie es selbst noch kaum glauben. „Was für ein toller Abend“, staunt Hannelore Kraft. „Es ist so ein tolles Gefühl, nach zwölf Jahren das erste Mal wieder vorne zu sein“, schwärmt die NRW-Ministerpräsidentin, bevor ihre Anhänger wieder jubeln. Ihren Sohn Jan und ihren Mann Udo hat sie mit auf die Bühne gebracht. Sie herzt beide und kommt dann auf die Bundespolitik zu sprechen. Kraft nennt ihren Sieg „ein klares Signal nach Berlin“.
Hochstimmung herrscht auch in der Berliner SPD-Zentrale, wo schon rote Fahnen geschwenkt werden, als um 18 Uhr die ersten Prognosen über die Bildschirme laufen. Parteichef Sigmar Gabriel hebt erst die Leistung der Spitzenkandidatin hervor, bevor auch er die Wahl im Westen als entscheidendes Signal für 2013 wertet. Wenn nur die Richtung klar sei, „dann haben SPD und Grüne trotz der Piraten auch eine eigene Mehrheit“, verkündet der SPD-Chef: „Das ist, was wir uns merken müssen.“ Wegen der stabilen Umfragewerte der CDU im Bund, die stetig vor der SPD liegt, und wegen des Aufstiegs der Piratenpartei war die SPD-Spitze zuletzt immer weniger mit ihrer Behauptung durchgedrungen, eine rot-grüne Mehrheit im Bund sei 2013 durchaus erreichbar.
Drei Gründe führte Gabriel an, warum die NRW-SPD gemeinsam mehr Stimmen als CDU und FDP zusammen geholt habe: „Der erste ist Kraft, der zweite ist Stärke und der dritte ist Geschlossenheit.“ Wohl um Geschlossenheit zu demonstrieren, waren auch die beiden anderen potenziellen Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück ins Willy-Brandt-Haus gekommen, um den Sieg zu erklären und zu feiern.
Alle drei verbreiteten die Botschaft, dass der Triumph von NRW die SPD im Bund stärke, ihr Rückenwind für 2013 gebe und damit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) empfindlich treffe. Schon vor dem Wochenende hatte die SPD angekündigt, dass am kommenden Dienstag die Troika aus Gabriel, Steinmeier und Steinbrück nach vielen Monaten in Berlin wieder gemeinsam auftreten und Merkel ihre Bedingungen für die Zustimmung der SPD zum Fiskalpakt diktieren will.
Reaktionen auf die Wahl in Nordrhein-Westfalen in Bildern
Den Durchmarsch der stellvertretenden Parteivorsitzenden Kraft werten manche Sozialdemokraten aber auch als Herausforderung für den Anspruch der drei Männer. „Ob die Troika heute Geschichte ist?“, twitterte der in der Parteilinken bestens vernetzte Berliner Staatskanzleichef Björn Böhning. „Selbstverständlich, bei einem so überzeugenden Ergebnis gehört eine Ministerpräsidentin des bevölkerungsreichsten Bundeslandes zu denen, die für eine solche Kandidatur infrage kämen", sagte Gabriel auf eine entsprechende Frage, fügte aber gleich hinzu: „Aber sie hat es ausgeschlossen.“
Das hatte Kraft vor der Wahl tatsächlich mehrfach getan - und wiederholte ihre Absage auch am Wahlabend. Intern hatte sie zudem an die SPD-Führung appelliert, sie bloß nicht als Kanzlerkandidatin ins Gespräch zu bringen und zur Hoffnungsträgerin gegen Merkel hoch zu reden. Freilich rechnet man auch in der SPD-Spitze damit, dass sie ihre neue Machtstellung durchaus dazu nutzen wird, auch in der Kandidatenfrage mitzureden. „Sie wird die Jungs zappeln lassen“, bemerkte Generalsekretärin Andrea Nahles dazu salopp.
Aufmunterung hatte die Bundes-SPD nach dem Ergebnis der Landtagswahl von Schleswig-Holstein vor einer Woche dringend nötig. Dort lag die CDU vorne, die mangelnde Mobilisierung schockte die Genossen in Berlin. Der Erfolg der Piraten in Kiel nährte die Befürchtung, dass es bei den Bundestagswahlen kaum reichen werde für die rot-grüne Wunschkoalition und damit nicht für das Kanzleramt. Die Vorstellung aber, als Juniorpartner in eine von Merkel geführte große Koalition gezwungen zu werden, ist für viele Sozialdemokraten so schrecklich, dass prompt wieder Rufe nach einem konfrontativeren Kurs aufkamen, mit der sich die SPD von Merkel absetzen solle.
Warum die Grünen entspannt in Richtung Bundestagswahl blicken können
Auch für die Machtoptionen der Grünen im Bund ist die Wahl in NRW von existenzieller Bedeutung. „Wenn im größten Bundesland Rot-Grün möglich ist, ist das auch möglich im Bund“, jubelt Grünen-Chefin Claudia Roth am Wahlabend. Dies sei „definitiv der Anfang vom Ende von Schwarz-Gelb“. Nüchterner analysiert Bundestagsfraktionschef Jürgen Trittin die Lage: Natürlich werde es 2013 „nicht einfach“, sondern „eng“. Aber die Wahl habe gezeigt, dass es auch in einem Fünf- bis Sechs-Parteien-System möglich sei, eine rot–grüne Mehrheit zu erringen.
Nach Ansicht von Grünen-Spitzenkandidatin Sylvia Löhrmann haben sich die vergangenen 20 Monate Regierungsarbeit für beide Koalitionspartner ausgezahlt. Den Grünen war es zu verdanken, dass sich die damalige SPD-Fraktionschefin Kraft nach der Abwahl von Jürgen Rüttgers 2010 dazu durchrang, das Wagnis einer Minderheitsregierung einzugehen. Löhrmann überzeugte Kraft davon, dass die abgewählte CDU trotz knappen Stimmenvorsprungs gegenüber der SPD nicht wieder die Regierung stellen dürfe.
Die NRW-Wahl in Bildern
Zu Anfang des achtwöchigen Blitzwahlkampfes hatten die Grünen im wichtigsten Bundesland noch ein stärkeres Stimmenpolster. Als die FDP im März ankündigte, den Haushalt der rot-grünen Landesregierung nicht mitzutragen, stand die Ökopartei in NRW in Umfragen noch bei rund 15 Prozent. Doch je länger der Wahlkampf dauerte, umso stärker wurde der Kraft-Effekt: Die Dominanz der sozialdemokratischen Ministerpräsidentin zog im rot-grünen Lager Stimmen vom kleineren Partner ab. Umso größer war bei den Grünen die Erleichterung, dass sie ihr Rekordergebnis von vor zwei Jahren mit rund zwölf Prozent halten konnten.
Doch auch wenn die Grünen im Schatten von Ministerpräsidentin Kraft standen, bleibt ihnen immerhin ein Trost: Auf Bundesebene verfügt die SPD nicht über einen so dominanten Spitzenpolitiker wie Hannelore Kraft. Deshalb steht die Partei bislang nicht in Gefahr, von einem SPD- Kanzlerkandidaten an den Rand gedrängt zu werden: Sich gegen den unsteten Stil von Parteichef Gabriel abzugrenzen, fiele der Ökopartei nicht schwer. Steinmeier gilt nicht als ein Politiker, der durch übermächtige Präsenz Konkurrenten von der Bühne der Wahrnehmung schiebt. Und auch der aus heutiger Sicht unwahrscheinlichste Kanzlerkandidat, nämlich Steinbrück, würde thematisch viel Platz für die Ökopartei lassen.
Der Trost der Grünen freilich birgt auch eine Gefahr: Zwar wird die SPD spätestens im Januar 2013 einen Kanzlerkandidaten küren. Doch wenn der dann nicht mehr Überzeugungskraft entfaltet als bisher die Troika gemeinsam, rückt eine rot-grünen Mehrheit in weite Ferne.
Der Erfolg von NRW verhindert, dass sich die SPD in zermürbende Kursdebatten stürzt, die bei einem Verfehlen der rot-grünen Mehrheit gedroht hätte. Einen Ausweg aus dem strategischen Dilemma der Partei, die gegen die Stärke der CDU im Bund noch immer kein Mittel gefunden hat und deren rot-grüne Hoffnungen durch den Aufstieg der Piraten gefährdet ist, weist das NRW-Ergebnis noch nicht. Das Selbstbewusstsein der größten Oppositionspartei und ihren Machtwillen aber dürfte der Sieg stärken. Auf die Fragen, wie die Partei mit ihrer neuen Stärke umgehen will und ob sie nun in der Europapolitik einen härteren Kurs gegen Merkel fährt, dürfte der gemeinsame Auftritt die Troika am Dienstag wichtige Antworten geben.
Hans Monath, Cordula Eubel