Terroristen profitieren von Coronavirus-Pandemie: Der IS gewinnt im Nahen Osten an neuer Schlagkraft
Tausende Kämpfer, viel Geld und Gegner, die mit der Corona-Pandemie befasst sind: Der „Islamische Staat“ versucht, im Nahen Osten wieder Fuß zu fassen.
Bisher sind es nur verhältnismäßig kleine Attacken. Doch die Zahl der Anschläge steigt. Und sie zeugen von einer neuen Schlagkraft des „Islamischen Staates“ (IS).
So starben vor wenigen Tagen zwei amerikanische Soldaten bei einem „feindlichen“ Angriff im Irak, wie das US-Militär mitteilte. In Syrien töteten die Dschihadisten Berichten zufolge kürzlich mehrere Regierungskämpfer.
Ein Jahr nach dem Ende ihres „Kalifats“ und ein halbes Jahr nach dem Tod ihres Anführers Abubakr al Bagdadi melden sich die „Gotteskrieger“ zurück. Sie wittern die Chance auf ein Comeback – weil ihre Gegner mit dem Kampf gegen die Corona-Pandemie beschäftigt sind.
Zwar ist der IS weit von seinen Erfolgen der Jahre 2014 und 2015 entfernt, als er große Teile des Iraks und Syriens überrannte und Zehntausende Extremisten aus aller Welt anzog. Eine internationale Allianz unter Führung der USA drängte den IS schließlich immer weiter zurück und eroberte im Frühjahr vergangenen Jahres den letzten Zipfel des „Kalifat“-Gebietes. Im Oktober starb Bagdadi bei einem Angriff von US-Soldaten. Er hatte sich in Nordsyrien versteckt.
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Tausende IS-Gefolgsleute in Straflagern
Doch von einem endgültigen Sieg über den IS kann keine Rede sein. Die Terrorgruppe verfügt nach wie vor über viel Geld – das unter anderem aus der Plünderung eroberter Städte und dem illegalen Ölhandel stammt –, und sie konnte dank ihres dezentralisierten Aufbaus wichtige Teile ihrer Strukturen retten.
Es gibt zudem eine neue Führung. Als Bagdadis Nachfolger haben die USA den früheren irakischen Offizier Abdul Rahman al Mawli im Visier. Tausende IS-Gefolgsleute sitzen in Straflagern im Nordosten Syriens und warten auf eine Chance, sich wieder den Extremisten anzuschließen. Erst vergangene Woche gelang einigen von ihnen die Flucht.
Der IS sei nach wie vor gut aufgestellt, sagt der Terrorismus-Experte Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. „Die Organisation hat rechtzeitig viel Geld in Sicherheit gebracht – und verfügt über eine große Anzahl bewaffneter Kämpfer“. Im Irak und in Syrien könne der IS jeweils auf 2000 Männer zurückgreifen.
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Es könnte wieder mehr Anschläge im Nahen Osten geben
„Das ist verglichen mit der Schwächephase der Islamisten um das Jahr 2010 eine Menge. Damals waren es insgesamt nicht mehr als 700 Bewaffnete.“ Somit werde womöglich die Zahl der Anschläge im Nahen Osten in absehbarer Zeit wieder zunehmen.
Die weltweite Coronakrise spielt den Dschihadisten unter anderem dadurch in die Hände, dass die westliche Anti-IS-Koalition ihre Aktivitäten herunterfährt. Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Spanien ziehen Soldaten aus dem Irak ab, um sie vor dem Risiko einer Ansteckung mit dem Virus zu schützen.
Die Pandemie schwäche auch andere staatliche Akteure, sagt Steinberg. Dafür sei der Irak ein prägnantes Beispiel.
Der Iran ist als Gegner der Dschihadisten geschwächt
„Die Regierung in Bagdad taumelt, ist hilflos und kann keine Antworten auf die drängenden Fragen in dieser Seuchenzeit geben. Und dem Staat brechen durch den sinkenden Ölpreis wichtige Einnahmen weg.“ Doch um den IS effektiv bekämpfen zu können, brauche es staatliche Strukturen. „Diesen Schwachpunkt wird der sogenannte Islamische Staat versuchen, für Offensiven zu nutzen.“
Zudem ist nach Steinbergs Worten der Iran als starker und entschlossener Feind des IS sehr geschwächt und könnte große Probleme bekommen, seine Position in der Region zu halten. „Teheran-hörige Schiitenmilizen waren lange Zeit sehr erfolgreich im Kampf gegen den ‚Islamischen Staat’.
Aber diese Einheiten sind eben auch extrem abhängig von iranischer Unterstützung. Und die Mullahs haben gegenwärtig alle Hände voll zu tun, um die Seuche einzudämmen. Das kommt dem IS zugute.“
Der weitgehende Ausfall der USA als Gegner der Terrormiliz ist ein weiterer Vorteil für die Dschihadisten. „Die Amerikaner ziehen sich zurück, bilden keine irakischen Sicherheitskräfte mehr aus. So bekommt der IS wieder Luft zum Atmen“, sagt Steinberg.
Allein im vergangenen Monat verließen US-Truppen drei Stützpunkte im Irak, das Ende von zwei weiteren Militäreinrichtungen ist geplant. Die Truppenverlegungen werden zwar bereits seit dem vergangenen Jahr vorbereitet und hängen nicht mit der Pandemie zusammen.
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Auch in Afghanistan könnten der IS seinen Einfluss ausbauen
Washington will die amerikanischen Soldaten im Irak auf nur noch zwei Stützpunkten konzentrieren. Doch es ist offen, ob die einheimischen Sicherheitskräfte ohne amerikanische Hilfe in der Lage sein werden, den IS in Schach zu halten.
Auch in Afghanistan und in Westafrika sei der Kampf gegen den IS gefährdet, betonte die Denkfabrik International Crisis Group kürzlich in einer Analyse. „Wenn die regionale staatliche Zusammenarbeit zusammenbricht, weil sich die jeweiligen Länder mit der Krise ihrer Gesundheitssysteme befassen, oder wenn sich internationale Akteure wegen des Coronavirus zurückziehen, so wie es einige Länder offenbar im Irak tun, dann könnte das schwere Folgen haben.“
Der IS sieht sich deshalb im Aufwind. In ihrem Newsletter „Al Naba“ betonten die Extremisten der Crisis Group zufolge, die Coronakrise werde die Feinde des „Kalifats“ dazu veranlassen, sich auf andere Dinge zu konzentrieren als auf den Kampf gegen den IS, und werde das Lager der IS-Gegner „atomisieren“.
Eine "Reisewarnung" für Europa
Große Angriffe in Europa hält Experte Steinberg jedoch eher für unwahrscheinlich. „Dazu müsste der IS das notwendige Personal nach Europa schicken. Das ist allerdings ein großes Problem für die Islamisten: Denn die Grenzen sind ja wegen der Corona-Epidemie dicht.“
In einer Art „Reisewarnung“ hatte der IS seine Anhänger schon vor Unterbrechung der internationalen Flugverbindungen dazu aufgerufen, Europa wegen der Pandemie zu meiden. Wer gesund sei, solle Seuchengebiete nicht besuchen. Und wer in einem Seuchengebiet lebe, müsse auf jeden Fall dort bleiben.