NSU-Prozess am Oberlandesgericht München: Der große Wirrwarr
Die mehreren hundert Zeugen, die im NSU-Prozess aussagen sollen, wurden ursprünglich in Themenblöcke eingeteilt. Dann aber wurden der Prozess wegen des Akkreditierungsverfahrens verschoben und die Termine geändert. Nun herrscht Chaos.
An einem Tag geht es um einen Mord der Terrorzelle in Nürnberg, am nächsten um das Geständnis eines Angeklagten, dann um die Brandstiftung von Beate Zschäpe in Zwickau. Der NSU-Prozess am Oberlandesgericht München, so befürchten vor allem Anwälte der Opfer, zerfasert. Allein für kommenden Dienstag hat der 6. Strafsenat Zeugen zu drei Tatkomplexen geladen. Im größten Prozess zu rechtsextremem Terror seit der Wiedervereinigung wächst der Wirrwarr.
Beweisaufnahme im NSU-Prozess könnte unter Unübersichtlichkeit leiden
„Es ist für meine Mandantinnen und für mich sehr schwierig nachzuvollziehen, wann, was, warum zu diesem Zeitpunkt verhandelt wird“, sagt der Berliner Anwalt Mehmet Daimagüler. Er vertritt Hinterbliebene zweier Mordopfer aus Nürnberg. „Wir jonglieren ständig mit 12 Bällen in der Luft und laufen Gefahr, dass am Ende nicht ein, sondern alle Bälle auf dem Boden liegen“. Die Anwälte der Angehörigen des in Kassel erschossenen Halit Yozgat haben die Sorge sogar in Form eines Antrags vorgebracht. Am Mittwoch forderten Alexander Kienzle und Doris Dierbach von dem Vorsitzenden Richter Manfred Götzl eine „sachlogisch nachvollziehbare Struktur der Beweisaufnahme“. Weil sonst die Übersichtlichkeit „vollständig abhanden komme“.
Elf Verteidiger, über 80 Nebenkläger und viele Fragen an die Zeugen
Kienzle und Dierbach schlugen vor, Götzl solle die Zeugen so laden, wie er es ursprünglich geplant hatte. In seiner Verfügung vom Februar hatte der Richter die mehreren hundert Zeugen in thematische Blöcke eingeteilt. Im Vordergrund standen die zehn Morde des NSU. Die Fälle sollten jeder für sich und nacheinander verhandelt werden. Die Struktur erschien sinnvoll, war aber schon beschädigt. Götzl hatte sie in ein enges Zeitschema gepresst, das im Januar 2014 enden sollte. Obwohl etwa 30 Straftatenkomplexe zu klären sind. Zudem waren von elf Verteidigern und den Anwälten von mehr als 80 Nebenklägern viele Fragen an die vielen Zeugen zu erwarten.
Und im April verschob Götzl den Beginn des Prozesses um drei Wochen. Das Bundesverfassungsgericht hatte beanstandet, dass türkische Journalisten bei der Vergabe reservierter Sitzplätze außen vor blieben. Götzl setzte, ohne dass es Karlsruhe verlangt hätte, ein neues Akkreditierungsverfahren an. Die für die drei Wochen vorgesehenen Zeugen verteilte er auf andere Termine. So war die Hauptverhandlung belastet, bevor sie angefangen hatte. Götzl versucht nun, mit einer betont forschen Regie den Prozess im Griff zu behalten. Anwälte werden angeschnauzt, wenn der Richter meint, Fragen seien langatmig oder schon einmal gestellt worden. Dabei passiert es inzwischen auch Götzl, dass er Fragen an Zeugen wiederholt, die über mehrere Tage einvernommen werden. Verliert allmählich selbst er den Überblick?
Verliert der Vorsitzende Richter Götzl den Überblick im Prozess gegen Beate Zschäpe?
Vielleicht hat Götzl auch deshalb auf den Antrag der Anwälte Kienzle und Dierbach aggressiv reagiert. Er fauchte sie an, ob sie schon mal an den Urlaub von Zeugen und die vielen „Wünsche“ gedacht hätten, die an ihn herangetragen werden. Aber womöglich kommt ihm der Vorstoß gar nicht ungelegen.
Bereits im Mai hatte Götzl diskutieren lassen, ob der Tatkomplex Nagelbombenanschlag in Köln vom Verfahren abgetrennt werden sollte. Die Anwälte der mehr als 20 Opfer, die bei der Explosion im Juni 2004 Verletzungen erlitten hatten, protestierten laut. Für sie ist Abtrennung gleich Einstellung, da Zschäpe bereits im laufenden Prozess die Höchststrafe zu erwarten hat.
Götzl sagte dann, „derzeit“ werde nicht beabsichtigt, den Komplex abzutrennen. Aber verworfen hat er die Idee sicher nicht. Auf einen Schlag wären etwa 20 Nebenklage-Anwälte weg. Das könnte insgeheim auch im Interesse mancher Anwälte sein, die Angehörige der anderen Opfer, der Ermordeten, vertreten.
Frank Jansen