22. Tag im NSU-Prozess: Hitzige Wortgefechte und merkwürdige Zeugenaussagen
„Das war eine absolut professionelle Hinrichtung“: So lautet das Fazit eines pensionierten Kriminaloberrats zu dem Mord an Habil Kilicm. Schon damals hätte eine Spur auf die Täter Mundlos und Böhnhardt führen können.
Wieder ein schwer erträglicher Tag im NSU-Prozess, wieder Bilder einer Leiche in ihrem Blut, wieder grauenhafte Details – und seltsame Reaktionen aus der Bevölkerung. Am Donnerstag hat der 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts München die Beweisaufnahme im Fall des 4. Mordopfers der Terrorzelle begonnen. Am Vormittag des 29. August 2001 hatten Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in München den Türken Habil Kilic im Lebensmittelgeschäft seiner Frau erschossen. „Das war eine absolut professionelle Hinrichtung“, sagte ein pensionierter Kriminaloberrat der Münchener Polizei als Zeuge im Prozess. Der Beamte hatte als Ermittlungsführer den Tatort kurz nach dem Mord inspiziert und erläuterte nun anhand von Fotos, was sich in dem kleinen Laden in der Bad-Schachener-Straße 14 abgespielt hatte – nur 100 Meter von einer Polizeidienststelle entfernt.
Mundlos und Böhnhardt brauchten keine fünf Minuten, um den Türken zu ermorden. Um 10.35 Uhr habe Kilic, der eigentlich als Stapelfahrer auf dem Großmarkt arbeitete, einen Anruf von einem Kollegen bekommen, sagte der ehemaliger Kriminaloberrat. Gegen 10.40 Uhr habe eine Kundin mit ihren zwei Kindern das Geschäft betreten, „die fand Herrn Kilic vor“ – tot, hinter dem Tresen liegend in einer großen Blutlache.
In der Zwischenzeit müssen Mundlos und Böhnhardt blitzschnell in den Laden gegangen und den Türken getötet haben. Mit der Ceska 83, die auch bei den acht weiteren Morden an Migranten eingesetzt wurde. Vermutlich einer der beiden Neonazis schoss Kilic zweimal gezielt in den Kopf, die beiden Projektile durchschlugen den Schädel. Der Mann war sofort tot. In technischem Tonfall sagte der Ex-Polizist, „der zweite Schuss war eine Art Fangschuss“.
Ein Zeuge wollte zur Tatzeit einen Türken „mit Mongolenbart“ gesehen haben
Außer den Projektilen fand die Polizei keine Spur von den Tätern. Es sei vermutlich aus einer Plastiktüte geschossen worden, sagte der Zeuge. Die Kollegen der Spurensicherung hätten keine Hülse entdecken können, aber ein Stückchen Plastik von einer Tüte. Die Polizei befragte rasch die Anwohner – und erhielt teilweise bizarre Antworten. Zwei Nachbarinnen behaupteten, aus dem Geschäft sei ein dunkelhäutiger Mann in einen dunklen Mercedes gestürmt, der mit quietschenden Reifen weggefahren sei. Später habe sich herausgestellt, dass eine der Damen die Geschichte erfunden hatte und sie der Nachbarin erzählte. Ein anderer Zeuge wollte zur Tatzeit vor dem Laden einen Türken „mit Mongolenbart“ gesehen haben. Die Polizei machte ein Phantombild. „Aber wir konnten den Mann nicht ermitteln“, sagte der frühere Kriminaloberrat. Eine andere Spur, die zu Mundlos und Böhnhardt gepasst hätte, wurde auch untersucht – aber ebenfalls ohne Erfolg.
Zeugenhinweis hätte zu Mundlos und Böhnhardt führen können
Eine Frau aus der näheren Umgebung des Tatorts hatte angegeben, unter ihrem Balkon zwei junge Männer gesehen zu haben, die auf ihre Fahrräder gestiegen und weggefahren seien. Das entsprach dem typischen Fluchtverhalten von Mundlos und Böhnhardt bei anderen Verbrechen. „18 bis 30 Jahre alt, schlank, sportlich“, habe die Frau das Duo beschrieben. Einer der beiden Männer soll zudem einen Rucksack und ein Headset getragen haben. Die Polizei vermutete, mit dem Headset hätten die Männer Kontakt zu einer dritten Person gehalten. Doch geklärt werden konnte nichts. Die Radfahrer seien als mögliche Zeugen in die Fahndung einbezogen worden, sagte der pensionierte Polizist, aber ohne Erfolg. Es brachte auch nichts, dass die Polizei den Fall Kilic mit weiteren Morden verglich, die Mundlos und Böhnhardt bis dahin mit der Ceska 83 begangen hatten.
Ob er seine Einschätzung, die Radfahrer seien Zeugen, nicht geändert habe, als die sich nicht meldeten, wollte der Nebenklage-Anwalt Mehmet Daimagüler wissen, der Angehörige der vom NSU in Nürnberg ermordeten Türken vertritt. „Ich habe mir damals nicht vorstellen können, dass es sich bei diesen Radfahrern um die Täter handeln konnte“, gab der Ex-Kriminaloberrat zu. Und er bestätigte, „dummerweise“ habe er als Zeuge vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bayerischen Landtags gesagt, „haben sie schon mal einen Neonazi auf einem Fahrrad gesehen?“
Der pensionierte Polizist schilderte allerdings auch abenteuerlich klingende Angaben von Türken zur Tat. „Alle Hinweise von da“ hätten in Richtung der kurdischen Separatistenpartei PKK, der türkisch-nationalistischen Grauen Wölfe und zur Organisierten Kriminalität gezeigt. Keiner der etwa 40 türkischen Hinweisgeber vermutete deutsche Rechtsextremisten als Täter.
Ex-Kriminaloberrat: „Herr Kilic war ein kreuzbraver Mensch“
Aus Sicht des Ex-Kriminaloberrats war es legitim, nach dem Mord an Kilic auch in Richtung Drogenhandel zu ermitteln. „Man soll mal nicht so tun, als ob es keine Türkenmafia gibt.“ Der Großmarkt, auf dem Kilic tätig war, habe als Umschlagplatz von Rauschgift gegolten. Außerdem sei ein mit Kilic bekannter Türke im Drogenhandel tätig gewesen. Doch es habe sich herausgestellt, „Herr Kilic war ein kreuzbraver Mensch“, sagte der frühere Polizist.
Die Aussagen regten den Nebenklage-Anwalt Adnan Erdal auf. Er vertritt einen Türken, der vom Nagelbombenanschlag des NSU in Köln betroffen war. In strengem Ton wollte Erdal von dem Zeugen wissen, ob er etwas von den Brandanschlägen auf Türken in Solingen und Mölln mitbekommen habe. Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl unterbrach Erdal und fragte ihn, was Solingen und Mölln mit diesem Prozess zu tun hätten. Erdal wurde laut, Götzl auch. Der Richter ermahnte den Anwalt, zu einem sachlichen Ton zurückzukehren und unterbrach die Verhandlung. „Wir machen eine kurze Pause, dann regen Sie sich bitte ab!“ Nach der Pause verzichtete Erdal auf weitere Fragen an den einstigen Kriminaloberrat.
Knapp zwölf Jahre nach der Tat sind Frau und Schwiegermutter noch traumatisiert
Am Nachmittag kamen die Ehefrau des ermordeten Habil Kilic und seine Schwiegermutter. Sie waren verunsichert, sie klangen verzweifelt und es war offenkundig: beide sind auch heute noch, knapp zwölf Jahre nach der Tragödie, traumatisiert. „Er hat fast jeden Tag gearbeitet, er hat im Laden mitgeholfen, er ist in die Großmarkthalle in der Frühe um drei Uhr gegangen und mittags wieder zurückgekommen“, sagte Ehefrau Pinar Kilic. „Er hat auf der Hand ein Brot gehabt, wie sie ihn erschossen haben.“ So wurde es ihr offenbar von der Polizei berichtet. Pinar Kilic verbrachte ihren Urlaub in der Türkei, als sie die Nachricht erhielt, ihr Mann sei tot. Sie eilte zurück nach München. Im Krankenhaus sei ihr gesagt worden, dass ihr Mann ermordet wurde. „Wie können solche Sachen passieren“, rief sie in den Saal. Bedrücktes Schweigen. Beate Zschäpe wirkte nachdenklich. Die anderen Angeklagten starrten vor sich hin.
Pinar Kilic gab das Geschäft auf, sie konnte den Anblick des blutverschmierten Bodens nicht ertragen. Sie und ihre Tochter hätten „total Angst gehabt“, auch von den Mördern erwischt zu werden. Und sie sei von der Polizei „wie eine Verdächtige behandelt worden, jahrelang“. Bis heute befinde sie sich in ärztlicher Behandlung. „Sie müssen so stark sein, aber irgendwann bricht das zusammen.“ Richter Götzl ließ es zu, dass der Anwalt der Frau sich neben sie setzte, nach einer Pause beorderte er auch einen Dolmetscher zu ihr. Es half nicht viel. Zuletzt sagte Pinar Kilic, nach der Ermordung ihres Mannes sei auch noch ihr Auto „zusammengeschlagen“ worden.
Stundenlang wurden die Angehörigen verhört
Die Mutter der Ehefrau wiederholte bei ihrer Aussage mehrfach, am Tattag stundenlang bei der Polizei von einer Beamtin befragt worden zu sein, wie sie sich mit ihrem Schwiegersohn verstanden habe, „ob es Probleme gegeben habe und so weiter“. Nach dreieinhalb Stunden habe die Beamtin einen Anruf bekommen und danach gesagt, „ihr Schwiegersohn ist gestorben, es gab eine Autopsie, seine Organe sind gesund“. Die Version der Polizei klingt anders. Richter Götzl zitierte aus einem Vermerk der Beamtin, Ertan O. sei erklärt worden, dass ihr Schwiegersohn verstorben sei, nach einem „kurzen Weinkrampf“ habe Frau O. gefasst gewirkt und sei bereit gewesen, Fragen zu beantworten. Als Götzl die Sätze verlesen hatte, sagte Ertan O. nur ein Wort: „Quatsch“.
Frank Jansen